Pyeongchang. Zweierbobs aus Kanada und Deutschland sind nach vier Läufen auf die Hundertstelsekunde gleich schnell. Zwei Sieger hatte es schon 1998 in Nagano gegeben

Plötzlich hält sie nichts mehr in der „Leaderbox“, jener Zone im Zielbereich, in der sich die Führenden aufhalten und lächelnd in die Kamera winken müssen. Francesco Friedrich und Thorsten Margis rennen einfach los und springen mit einem Satz auf die Tribüne. Fast hat es den Anschein, als würden die beiden Kraftpakete das Geländer herausreißen, an dem sie rütteln. Glücklicherweise lassen sie schnell davon ab und herzen lieber die überglücklichen Familien- und Fanclubmitglieder sowie einige Sponsoren.

Wenige Meter weiter fallen sich die Kanadier in die Arme und schreien ebenso ihre Freude heraus. Mittendrin: Justin Kripps und Alexander Kopacz, die das grandiose Finale einer denkwürdigen Zweierbob-Entscheidung geliefert hatten. Am Ende von vier Läufen auf der kniffligen Bahn des Olympic Sliding Center und insgesamt 5,504 Kilometern stand bei ihnen und den Deutschen exakt die gleiche Zeit zu Buche: 3:16,86 Minuten. Geteiltes Gold, doppelte Freude.

Andre Lange, der mit viermal Olympiagold dekorierte Meisterpilot vergangener Tage, beobachtet die emotionalen Szenen. „Was für eine Werbung für unseren Sport. Der Gesamtweltcupsieger dieser Saison und der Weltmeister der vergangenen Jahre stehen gemeinsam ganz oben. Gerechter geht es nicht“, sagt er und zollt seinem Nachfolger Anerkennung: „Solch ein Comeback gab es noch nicht so oft.“ Die Rolle des Jägers schien Friedrich in Südkorea mehr gelegen zu haben als jene des Gejagten, die er sonst immer innehat.

Seit Jahren dominiert er mit Anschieber Margis die Zweierbob-Konkurrenz, gewann viermal in Folge den WM-Titel und wollte sich nach dem ernüchternden achten Platz in Sotschi 2014 nun auch die olympische Krone aufsetzen. „Dass wir das noch geschafft haben, ist unglaublich. Ein krasses Rennen“, sagt Friedrich. Der Mann, der ihn zum Startrekord (4,85 Sekunden) schob, ergänzt: „Es gab für uns keine andere Option als Gold. Als wir uns am Abend gesammelt hatten, schworen wir uns für den zweiten Tag: alles oder nichts.“

Es entwickelte sich einer der spannendsten Wettbewerbe der olympischen Bob-Geschichte. Vergleichbar allenfalls mit der Entscheidung 1998 in Nagano, als der Kanadier Pierre Lueders und Günther Huber (Italien) zeitgleich zum Olympiasieg gerast waren. Diesmal lagen jedoch vor dem Finaldurchgang die ersten fünf Gespanne ganze 13 Hundertstelsekunden auseinander. Darunter auch die anderen deutschen Bobs: Nico Walther mit Christian Poser und Johannes Lochner mit Christopher Weber. Sie mussten zum Abschluss aber den starken Letten Oskars Melbardis noch vorbeiziehen lassen und landeten auf den Rängen vier und fünf.

Bundestrainer bewundert Friedrichs Nervenstärke

„Für sie tut es mir ein bisschen leid“, resümiert Bundestrainer Rene Spieß und zeigt sich gleichzeitig beeindruckt von der Nervenstärke seines Vorzeigepiloten. Der hatte die beiden Auftaktläufe verpatzt, weil er Kurve zwei nicht traf und viel Zeit verlor. „Ich war verdammt sauer auf ihn“, gibt Margis zu. So sehr, dass er vor Wut eine Planke im Auslauf zertrat und eine halbe Stunde brauchte, um sich einzukriegen. Dann raufte sich das Erfolgsduo zusammen; schwor sich, den Rückstand von 29 Hundertstel zur Halbzeit wettzumachen.

Allerdings war an Schlaf nicht zu denken, wie Friedrich erklärt. Immer wieder sei er in Gedanken die Schlüsselstelle der Bahn durchgegangen. „Wir sind den ganzen Tag durchgehangen“, sagt der 27-Jährige. Erst die Ankunft an der Bahn ließ sie hellwach werden – und angriffslustig. Im dritten Durchgang legten Friedrich/Margis einen Auftritt hin, den Spieß als „Zauberlauf“ bezeichnet: Bahnrekord mit 48,96 Sekunden.

Eine Marke, die mehrere Ursachen hat: So saßen die Trainer bis drei Uhr nachts zusammen, sezierten die Fahrten und legten eine neue Strategie fest, die Friedrich schließlich glänzend umsetzte. Zudem wurden die hinteren Kufen gewechselt, die vorderen nochmals geschliffen. Aber ohne Zittern ging es nicht. Nachdem er seinen finalen Lauf, „ohne auch nur einmal nach oben zu gucken“ absolviert hatte, durchlebt er am Fernseher in der „Leaderbox“ ein Wechselbad der Gefühle. Die Kanadier lagen erst zurück, dann vorn, und als im Ziel die Punktlandung feststeht, gibt es plötzlich vier Olympiasieger. „Ich hoffe nur“, wirft Margis grinsend ein, „dass die auch vier Goldmedaillen haben.“