Jeongseon. Die Tschechin Ester Ledecká gewinnt sensationell Gold im Super-G – eigentlich rast sie auf einem Brett die Pisten hinunter

Um wirklich nachvollziehen zu können, was Ester Ledecká bei den Olympischen Winterspielen gelungen ist, muss man sich besser ein paar Bilder vor das geistige Auge holen. Absurde Szenerien, zugegeben. Zum Beispiel die, in der Tischtennisass Timo Boll das Tennisturnier von Wimbledon gewinnt. Oder dass Basketballstar Dirk Nowitzki die Handballer zum Olympiasieg wirft. Und Fußball-Weltmeister Toni Kroos könnte seine Pässe womöglich nicht mehr mit dem Fuß schlagen, sondern sie wie beim American Football mit der Hand werfen. Unvorstellbar, oder? Nun, Ester Ledecká ist so etwas Ähnliches tatsächlich gelungen.

Die 22 Jahre alte Tschechin ist die neue Olympiasiegerin im Super-G der Skifahrerinnen. Das klingt zunächst nicht sonderlich verblüffend, selbst wenn man Ledecká allein schon aufgrund der hohen Startnummer 26 kaum bis gar keine Chancen einräumen musste, am Mount Gariwang zu Gold zu fahren. „Es war mein Traum, darauf habe ich hingearbeitet. Aber das habe ich nicht erwartet“, sagte die überwältigte Siegerin, die bei der Pressekonferenz später ihre riesige Skibrille nicht abnehmen wollte: „Ich habe kein Make-up dabei. Ich habe doch nicht damit gerechnet, hier Interviews zu geben.“

Was ihren Lauf mit der Siegerzeit von 1:21,11 Minuten so außergewöhnlich, ja: vergleichbar mit dem „Miracle on Ice“, dem amerikanischen Eishockeysieg 1980 in Lake Placid über die übermächtige Sowjetunion, macht: Ledecká ist die beste Snowboarderin auf zwei Skiern, oder die beste Skifahrerin, die eigentlich Snowboarderin ist – je nachdem. Als erste Athletin kann sie in Pyeongchang bei Winterspielen in zwei verschiedenen Sportarten Olympiasiegerin werden, denn am Donnerstag ist die zweimalige Weltmeisterin auf dem Snowboard ja auch noch haushohe Favoritin im Parallel-Riesenslalom. Was die Ski-Kolleginnen erleichtern wird: Für ihr zweites Gold wird Ledecká auf die Abfahrt am Mittwoch verzichten.

„Ich dachte, das war ein Fehler“, sagte die Tschechin nach der Zieldurchfahrt, als sie Anna Veith um die Winzigkeit von einer Hundertstelsekunde vom Goldrang verdrängt hatte. „Ich habe auf die Anzeigetafel geschaut und dachte, die legen da gleich ein paar Sekunden drauf.“ Nein, taten sie nicht. Die Favoritin Lindsey Vonn (USA/6.) und auch Viktoria Rebensburg (Kreuth/10.) waren geschlagen, Veith hatte bereits die Glückwünsche von IOC-Präsident Thomas Bach entgegengenommen, Agenturen die Nachricht vom Sieg der Österreicherin in die weite Welt verschickt. Doch dann legte Ledecká den Lauf ihres Lebens hin, mutig und technisch akkurat – eben wie eine, die sonst nichts anderes macht.

So aber wurde die alpine Elite von einer Snowboarderin düpiert. In Garmisch-Partenkirchen gab Ledecká im Februar 2016 ihr Ski-Weltcupdebüt. Bereits ein Jahr vorher war sie Tina Weirather, der Bronzemedaillengewinnerin aus Liechtenstein, im Training in Chile aufgefallen: „Ich dachte nur: Wow, wer ist denn das? Es war eine Frage der Zeit, bis sie vorne landen würde.“ Ledeckás Gold in Pyeongchang ist nun eine der besten Olympiageschichten.

Eine duale Karriere bei Olympia gab es schon mehrmals, in den meisten Fällen als Mischung aus Leichtathletik und Bobfahren sowie Bahnradfahren und Eisschnelllauf. Das Doppelstartrecht im Sommer und Winter sicherten sich 132 Sportler, darunter auch zwei Deutsche. Leichtathlet Torsten Voss (54) gewann 1988 in Seoul für die DDR Silber im Zehnkampf, zehn Jahre später schob er in Nagano den Bob von Harald Czudaj an. Christa Luding-Ro­thenburger (59) gehört sogar zum erlesenen Kreis der fünf Athleten, die im Winter wie im Sommer Medaillen gewannen. Ebenfalls für die DDR lief sie 1988 in Calgary auf dem Eis zu Silber und wurde wenige Monate später in Seoul Zweite als Bahnradfahrerin. Gold bei beiden Olympiaausgaben gab es lediglich für den US-Amerikaner Eddie Eagan (1920 in Antwerpen als Boxer und 1932 in
Lake Placid im Bob), erste Plätze in zwei Winter-Disziplinen schaffte nur die Russin Anfissa Reszowa (1988 in Calgary im Langlauf, 1992 in Albertville im Biathlon).

Wie schafft man es, so ein Doppelleben im Schnee zu führen, wo doch schon eine Sportart für sich Unmengen an Aufmerksamkeit und harter Arbeit erfordern, um darin zur Weltelite zu gehören? „Die meisten Skifahrerinnen denken, ich bin verrückt“, sagte Ledecká kleinlaut. „Ich denke nicht, dass ich so viel Talent habe. Ich fahre den Berg runter und habe Spaß dabei, seit ich ein kleines Kind bin.“ Das ist als Erklärung natürlich viel zu einfach, zumal sich durch zwei Weltcupkalender allerlei Terminkollisionen ergeben und sie hin- und herspringen muss zwischen den Wettbewerben. Den Ratschlag, sich zu spezialisieren, hat Ledecká bisher guten Gewissens ausgeschlagen. Ihr Trainer Tomas Bank sagte in Jeongseon: „Sie ist ein Siegertyp. Sie genießt einfach alles, was sie tut. Daher ist es egal, ob sie Snowboard oder Ski fährt. Sie macht beides mit vollem Herzen.“ Und mit einer Unterstützung, die ihr ein Leben als Profi erlaubt. In ihrer Heimat reißen sich die Sponsoren um die Wirtschaftsstudentin, am Flughafen Prag nimmt sie den VIP-Eingang. Mit dem Geld leistet sich Ledecká ein privates Trainerteam, mit Spezialisten für Skier und Board. Weil sich ihre Eltern im tschechischen Skiort Spindlermühle niederließen, hatte sie von Kindestagen an perfekte Trainingsbedingungen. Das zahlt sich nun aus. Es gibt übrigens eine Gruppe Sportler, die sich jetzt schon mal Gedanken um ihre Erfolgsaussichten bei den Sommerspielen machen sollte. Ester Ledecká ist auch eine hochtalentierte Windsurferin. Ob sie deshalb auch 2020 in Tokio starten wolle? „Klar, warum nicht“, antwortete die Olympiasiegerin. Es klang nicht wie ein Scherz.