Pyeongchang. Aljona Savchenko und Bruno Massot schaffen das für unmöglich Gehaltene und gewinnen im Paarlauf doch noch Gold

Mehr als eine halbe Stunde war sicher schon vergangen, da wollte Aljona Savchenko ansetzen und erklären, was in ihr vorgeht. Sie öffnete den Mund, doch es kamen keine Worte über ihre Lippen. Stattdessen rannen Tränen über die Wangen, sie hielt die Hände vor das Gesicht, schüttelte den Kopf. Bruno Massot sprang herbei, nahm sie fest in den Arm. Zu überwältigend waren die vergangenen gut 25 Stunden. Zu überwältigend der Augenblick. „Das ist mein Moment. Das ist der Moment meines Lebens, es ist eine unglaubliche Geschichte“, schluchzte Savchenko schließlich.

Es ist die Geschichte ihrer Karriere, ihres Traumes von olympischem Gold, der sie seit Kindertagen begleitet. Es ist die Geschichte eines Wettkampfes, der so viel Dramatik bot, in dem Savchenko und ihr Partner Massot mit einer hinreißenden Kür den fast schon unerreichbar scheinenden Olympiasieg im Paarlauf doch noch erobern konnten. „Wir haben gekämpft wie Tiger“, sagte Savchenko, als sie sich wieder gefangen hatte. In ihrem letzten Versuch gab sie alles – und sie hat alles gewonnen.

Nach dem Kurzprogramm schien Gold bereits verloren

Auf der Tribüne brach Eiskunstlauf-Legende Katarina Witt in Tränen aus, als Savchenko/Massot ihr letztes Element beendet hatten. Unten sank Savchenko aufs Eis, voller Glück, dass die Kür nahezu perfekt gewesen war. Massot ließ sich ebenso fallen, beide lagen sich in den Armen. So viel ging ihnen durch den Kopf. „Ich kann mich gar nicht mehr an alles erinnern“, sagte Savchenko. Genießen konnten beide diesen Augenblick noch nicht vollends, dazu hatte ihr Kurzprogramm einen Fehler zu viel gehabt. Als Vierte gingen sie in die Kür, mit sechs Punkten Rückstand. Als Viertletzte starteten sie schließlich auch. „Es war mehr Stress, den anderen zuzusehen und zu warten, als selbst zu laufen“, erzählte Massot.

Doch die traumhafte Darbietung und die Benotung mit 159,31 Punkten, mit der sie ihren eigenen Weltrekord überboten, setzte die Führenden nach dem Kurzprogramm so unter Druck, dass das deutsche Paar letztlich mit insgesamt 235,90 Punkten und 0,43 Zählern vor den Chinesen Sui Wenjing/Han Cong die Goldmedaille gewann.

Die hätten nach dem Vortag nur wenige für möglich gehalten. Untröstlich blickte Massot da noch drein, weil er beim dreifachen Salchow im Kurzprogramm eine Umdrehung ausgelassen hatte. „Das war ganz hart für mich, aber Aljona hat mich wieder aufgebaut“, erzählte er. Im fünften Anlauf stand sie auf der olympischen Bühne – ein für Eiskunstläufer ungewöhnlich langer Zeitraum, in dem sie fünf Weltmeistertitel gewann und zweimal Bronze bei den Spielen. Mit 34 Jahren aber war klar, dass es keine weitere olympische Chance für sie geben wird. Selbst die Unerfahrenheit von Massot (29), dem Olympianeuling, wollte Savchenko nicht als Hindernis akzeptieren und rief als Devise die „Attacke“ in der Kür aus.

Attacke ist nicht unbedingt ein passendes Wort für das, was die beiden auf dem Eis zeigten. Ergreifend war ihre Choreographie zur Filmmusik der Naturdoku „Die Welt von oben“, fehlerfrei gelangen ihnen alle Elemente, ihre Ausdruckskraft berührte die Herzen. Sie liefen „die beste Kür, die ich je von ihnen gesehen habe“, sagte Trainer Alexander König. Auch er hatte Tränen in den Augen, dieser Auftritt ließ niemanden unberührt.

In den vergangenen Wochen, verriet Massot, hatten sie noch versucht, ein wenig mehr Emotionen in ihr Kürprogramm zu bringen. Mehr Gefühl, mehr Ästhetik, mehr Anmut lassen sich wohl kaum unterbringen als in diesen fast fünf Minuten.

Als nach und nach die vor ihnen liegenden Paare ihre Programme absolvierten und alle mit Fehlern begannen, zitterten beide eine ganze Weile. Die zuvor zweitplatzierten Russen Jewgenia Tarassowa/Wladimir Morosow, die von Savchenkos früherem Erfolgspartner Robin Szolkowy betreut werden, starteten als Letzte. Auf ihre Note, die nur zu Platz vier reichte, mussten sie nicht mehr warten. Massot weinte bereits hemmungslos, als Savchenko erst ein kraftvolles „Yes“ ausstieß und die Faust in die Luft schwang. Dann brach sie fast zusammen vor lauter Emotionen. „Manche brauchen fünf Anläufe, manche nur einen. Ich gebe niemals auf“, stammelte sie später. Schon am Morgen nach dem Aufwachen habe sie sich gesagt: „Heute schreiben wir Geschichte“. Trainer König hatte beim frühen Warmlaufen bemerkt, „dass Bruno, der in den Tagen zuvor unruhig wirkte, heute nicht nervös ist“. Das erste deutsche Paarlauf-Gold seit 66 Jahren (1952 in Helsinki gewannen Ria und Paul Falk) war der Lohn für ihre Entschlossenheit.

Dafür hatte Savchenko ihr Leben 2014 auf den Kopf gestellt nach dem Karriereende von Szolkowy. Sie suchte sich einen neuen Partner, wechselte den Trainer, zog von Chemnitz nach Oberstdorf, ging den Paarlauf in einer neuen Weise an. „Ihre Persönlichkeit hat sich geöffnet, sie durfte Mensch sein“, so König. Mit ihrer Kreativität erarbeitete sich das Trio ein künstlerisch orientiertes Programm, das neuartig war. „Ein großartiger Tag für den Eiskunstlauf in Deutschland“, sagte Udo Dönsdorf, Sportdirektor der Deutschen Eislauf-Union. Mindestens.