Pyeongchang . Andreas Wellinger springt zu olympischem Gold – in einem nächtlichen Wettkampf, der wegen des Wetters zum Nervenspiel wurde

Aus dem Fenster des Birch Hill Golf Clubs war am Sonntagmittag die Sicht frei auf die Skisprungschanze von Pyeongchang. In dem noblen Clubhaus hat die deutsche Olympia-Delegation ihre Dependance während der Olympischen Winterspiele eingerichtet. Doch Andreas Wellinger fiel es schwer, die Augen aufzuhalten. Auf halbmast befanden sich die Lider, Spuren der Partynacht zu Ehren des neuen Olympiasiegers von der Normalschanze. Um 5 Uhr morgens sei man vom Deutschen Haus wieder in das olympische Dorf gefahren. „Es war auf jeden Fall noch dunkel“, sagte der 22-Jährige beinahe entschuldigend. Als wenn ihm jemand einen Vorwurf hätte machen können für diesen traumhaften Ausgang in einem der außergewöhnlichsten Wettkämpfe in der Geschichte des Skispringens.

Die Champagnerdusche, die Wellinger und Biathlon-Triumphatorin Laura Dahlmeier (Biathlon-Berichte auf Seite acht) gegen halb drei Uhr nachts den Besuchern aus zwei Magnumflaschen gönnten, war der letzte große Emotionsausbruch. „Das hat extrem viel Spaß gemacht“, gestand der Oberbayer aus Ruhpolding, der im größten Springen seines bisherigen Lebens beeindruckend die Nerven behalten hatte. Fast drei Stunden Wettkampfzeit, dazu eisige Temperaturen, extreme Winde plus eine grandiose Aufholjagd von Platz fünf im ersten Durchgang auf den Goldrang. „Was passiert ist, war unglaublich. Das Ganze zu verarbeiten wird lange dauern“, sagte Wellinger.

Sein Triumph war über die gesamte Saison betrachtet nicht zu erwarten gewesen. Doch nach den ersten Tagen im klirrend kalten Südkorea war zumindest innerhalb des deutschen Teams vielen klar, dass es Wellingers Spiele werden könnten. Von Anfang an kam er mit der Schanze und den schwierigen äußeren Bedingungen hervorragend zurecht. Gleichzeitig lastete kein gewaltiger Erwartungsdruck auf ihm.

Der ganz große Druck lag nicht auf Wellinger

Ihm kam wohl auch die Ausgangsposition im zweiten Durchgang zugute: Als Fünftplatzierter in Lauerposition gelang ihm der perfekte Sprung: 113,5 Meter – Schanzenrekord. Als dann alle Folgenden mehr oder weniger patzten, auch der führende Pole Stefan Hula, überkamen ihn die Emotionen – und die Tränen flossen. Ein Einzelsieg ist eben noch etwas anderes als das Teamgold, das Wellinger 2014 in Sotschi gewonnen hatte. Er war der erste Deutsche, dem dies seit Jens Weißflog 1994 in Lillehammer gelang.

Zugetraut worden war dies eigentlich eher Richard Freitag. Doch auch der 26 Jahre alte Sachse zählte zu den Geschlagenen. Doch von Neid war unter den DSV-Adlern nichts zu spüren, nachdem sich Wellinger Gold vor den Norwegern Johann André Forfang und Robert Johansson gesichert hatte. „Es war verdient, er ist ein geiler Typ“, richtete Freitag glaubwürdige Glückwünsche an die Adresse des Olympiasiegers. Schließlich sind in den nächsten Tagen die Ziele der Herren Wellinger, Freitag, Markus Eisenbichler (8.), Karl Geiger (10.) und Stephan Leyhe (musste als fünfter Mann zuschauen) gleichlautend. Stellvertretend formuliert von Bundestrainer Werner Schuster lauten sie: „Auf der Großschanze ist definitiv was möglich. Ab Mittwoch werden wir wieder Spannung aufbauen und versuchen, weiter zu ernten.“

Im zweiten Wettbewerb, dem Einzel am kommenden Sonntag, gefolgt vom Teamspringen zwei Tage später (beides 21.30 Uhr Ortszeit/13.30 Uhr MEZ), greift nun Wellinger nach Doppelgold. Dreimal bei den letzten vier Winterspielen ist das gelungen: dem Schweizer Simon Ammann 2002 in Salt Lake City und 2010 in Vancouver, Stoch vor vier Jahren in Sotschi. Warum nicht auch Wellinger?

Bundestrainer Schuster traut es dem Wahl-Münchner unbedingt zu. „Das war der vorläufige Höhepunkt“, sagte der Österreicher. „Er wird nicht alle Springen gewinnen. Aber wenn er gesund bleibt und nicht den totalen Querlauf im Kopf hat, ist er noch einige Jahre gut im Rennen.“ Das nächste Mal womöglich schon wieder kommenden Sonntag. Danach im Erfolgsfall garantiert auch wieder im Deutschen Haus.