Melbourne. Die ehemalige Nummer eins ist jetzt Favoritin auf den Grand-Slam-Titel. Auch Roger Federer in Bestform

Man braucht dieser Tage gar nicht lange, um zu erkennen, was Angelique Kerber wieder stark macht. Und worin der Plan besteht, den sie gemeinsam mit dem Neuen an ihrer Seite entwickelt hat, mit dem belgischen Trainerstrategen Wim Fissette. Auch als Kerber am Mittwochmorgen in nur 51 Minuten die Amerikanerin Madison Keys mit 6:1 und 6:2 vom Centre-Court in Melbourne scheuchte, war sie wieder die bestimmende Kraft in diesem Viertelfinalduell. Kerber wartet neuerdings nicht mehr auf die Fehler ihrer Gegnerinnen, sie ergreift selbst die Initiative, ist die Aggressorin. Sie lauert nicht weit, sondern knapp hinter der Grundlinie, nimmt die Bälle früh auf, kontert hart, präzise und methodisch. Genau so, wie Fissette es will. Und genau so, wie sich auch Kerber ihr Spiel idealerweise vorstellt. „Wir haben lange gesprochen über unsere Vorstellungen“, sagt sie, „und dann haben wir einen Plan entwickelt. Nach diesem Plan spiele ich jetzt auch.“

Und zwar so erfolgreich wie in jenen Tagen, als Kerber sich im Tennis-Wunderland befand. 2016 war das, und diese abenteuerlich schöne Reise begann damals in Melbourne, mit dem Sensationstriumph gegen Serena Williams. An der Seite von Fissette könnte sich der Grand-Slam-Coup nun wiederholen, zwei Siege war Kerber nach dem Kantererfolg gegen Keys noch vom Krönungsakt entfernt.

Schon in der Nacht zum Donnerstag musste sie wieder raus in die Rod-Laver-Arena, ins Zermürbungsduell gegen die rumänische Weltranglisten-Erste Simona Halep (Donnerstag, ab 6 Uhr MEZ). Dabei bekam sie Insider-Ratschläge von Fissette (37), der auch Halep schon trainierte – und sie auch auf Partien gegen Kerber vorbereitete. Das andere Halbfinale (ab 4 Uhr MEZ) bestritten Elise Bertens, die Belgierin spielt in der Bundesliga für den Hamburger Club an der Alster, und Caroline Wozniacki aus Dänemark.

Seine neue Chefin kannte Fissette überhaupt schon bestens, lange vor dem ersten gemeinsamen Arbeitstag im letzten Spätherbst. Fissette entwickelte schließlich auch schon für Chefinnen wie Viktoria Azarenka, Johanna Konta oder Sabine Lisicki taktische Ideen gegen Kerber. Inzwischen modelliert er das Spiel der Deutschen um, setzt auf neue Ideen und ein angriffsorientierteres Konzept. „Sie soll ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Sie soll einfach aktiver sein“, sagt der 37 Jahre alte Belgier, ein jugendlicher Coach, der bereits in sehr jungen Jahren als Übungsleiter herausragende Erfolge vorzuweisen hatte. Nicht zu vergessen: Fissette war gerade 29 Jahre alt, als er an der Seite seiner belgischen Landsfrau Kim Clijsters half, deren faszinierendes Comeback zu inszenieren. 2009 holte Mama Clijsters wie aus dem Nichts den US-Open-Titel, und Fissette jubelte auf der Tribüne mit.

Eine lange Anlaufzeit haben Kerber und Fissette nun auch nicht gebraucht, um eine erstaunliche Rückkehrmission auf den Centre-Court zu zaubern. Bei den Australian Open wirkt die ehemalige Weltranglisten-Erste drahtiger, zäher, wendiger und fitter als je zuvor. Bis zum Einzug ins Halbfinale hatte sie nun schon 14-mal ungeschlagen die Courts verlassen und zwischenzeitlich auch einen Turniererfolg in Sydney gefeiert. Und eins war, vor allem anderen, zu sehen: Kerbers Schwäche, der zu langsame, oft nicht selbstbewusste Aufschlag, ist keine Schwäche mehr. Stattdessen hat er sich zu einem Pluspunkt entwickelt, zu einem mitbestimmenden Faktor, um Matches zu gewinnen. „Als wir uns das erste Mal zusammensetzten und über die gemeinsame Arbeit sprachen, habe ich klargemacht, dass wir am Aufschlag etwas richtig verändern müssen“, sagt Fissette, „schließlich ist das der einzige Schlag im Tennis, den der Gegner nicht beeinflussen kann.“

Auch im Viertelfinalduell mit Keys wollte Kerber druckvoll servieren und auch ansonsten mit dem Selbstvertrauen ans Handwerk gehen, das ihr der ideale Saisoneinstieg verliehen hat. „Ich bin einfach nur sehr zufrieden, wie ich wieder Tennis spiele“, sagt Kerber. „Das vergangene Jahr ist aus meinem Gedächtnis verschwunden.“ Fissette, der neue Mann an ihrer Seite, sei dabei ein wertvoller Impulsgeber gewesen: „Es war wichtig und richtig, eine neue Stimme hören zu können.“ Eine gut verständliche zudem, denn Fissette spricht auch flüssig Deutsch.

Hierzulande wurde Fissette vor allem als Coach von Lisicki bekannt. 2013 führte die Kooperation zum Wimbledon-Finaleinzug der Berlinerin, allerdings endete das Arbeitsverhältnis schon im Herbst jener Saison, angeblich wegen „unterschiedlicher taktischer Auffassungen.“ Fissettes Reputation blieb stets unbeschädigt in der launischen Damenbranche. Er gilt weithin als Mann, der noch jeder seiner Chefinnen einen signifikanten Aufschwung bescherte und für spielerischen Fortschritt sorgte. Es sei ein „Bauchgefühl“ gewesen, Fissette zu wählen, sagt Kerber, aber es war auch eine naheliegende Entscheidung. Es sind nicht viele Trainer mit vergleichbarer Biografie und Meriten auf dem Markt.

Bei den Herren hat sich derweil der letzte der „Großen vier“ ins Halbfinale durchgesetzt. Nach den verletzungs­bedingten Ausfällen von Rafael Nadal, Novak Djokovic und Andy Murray besiegte Titelverteidiger Federer (36) den Tschechen Tomas Berdych klar mit 7:6, 6:3, 6:4 und trifft nun am Freitag auf Zverev-Bezwinger Chung Hyeon (Korea) – 15 Jahre jünger als er. „Ich kenne diese Jungs kaum, aber ich mag es irgendwie“, sagte der 19-malige Grand-Slam-Champion: „Von Zeit zu Zeit sind neue Namen klasse für die Tour.“ Das zweite Halb­finale bestreiten am Donnerstag (ab 9.30 Uhr MEZ) der ungesetzte Brite Kyle Edmund­ und der Kroate Marin Cilic .