Hamburg. Immer weniger Zuschauer kommen ins Stadion. Der HSV droht wegen seiner Dauerkrise auch sein letztes Faustpfand zu verlieren: die Unterstützung seiner Fans und der Stadt

Der eigene Vater war schuld. Auf dessen Schultern entflammte die HSV-Leidenschaft vom damals achtjährigen Bahadir Kutup. 1983. Beim Meisterempfang auf dem Rathausmarkt. „Danach war ich eigentlich immer im Stadion“, sagt Kutup, heute 42 Jahre alt. „Erst über eine Zusatzkarte für damals vier Mark, ab 1989 als Dauerkarteninhaber.“ Doch hätte der Tornescher seinerzeit bereits gewusst, was er später durchleiden müsste, hätte er sich wahrscheinlich nie auf die Schultern seines Vaters gesetzt. Frei nach dem englischen Erfolgsautor Nick Hornby sagt er: „Ich verliebte mich in den HSV, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.“

Der Schmerz und die Zerrissenheit könnten derzeit kaum größer sein. Bei Kutup – und bei so ziemlich jedem anderen HSV-Fan. „Ich spüre eine extreme HSV-Müdigkeit“, sagt auch Christian Mädge, der zusammen mit Kutup und weiteren Freunden eine Dauerkarte im Block 28B auf der Nordtribüne hat. „Mein HSV-Herz würde beim Abstieg bluten, aber meine Leidenschaft erlischt leider mehr und mehr.“

Kutup, Mädge und ihre Kumpels sind keine Einzelfälle. Der aktuelle Zuschauerschnitt von 50.212 Besuchern ist der schlechteste seit 13 Jahren. „Wir stellen insbesondere aufgrund der anhaltenden sportlichen Situation ein leicht sinkendes Zuschauerinteresse fest“, gibt HSV-Ticketingchef Kai ­Voerste zu, relativiert aber: „Mit einem Schnitt von über 50.000 bewegen wir uns auf einem sehr hohen Niveau.“

Bleibt die Frage: Wie lange noch?

Für das Gipfeltreffen am Abgrund zwischen dem HSV und dem 1. FC Köln am Sonnabend (18.30 Uhr) waren bis Mittwochnachmittag 49.500 Karten verkauft, wovon mindestens 3200 Tickets nach Köln gegangen sind. Und der HSV? Vermeldet auf der clubeigenen Homepage: „Rüsten für die Festung: Steigende Ticketnachfrage gegen Köln.“

Nun ja. „Ich habe den Eindruck, dass sich kaum jemand darüber bewusst ist, wie dramatisch die Lage tatsächlich ist“, sagt HSV-Fan Mädge. Der Rellinger ist HSV-Anhänger, „seit ich denken kann“. Mit sechs Jahren zum ersten Mal im Stadion, mit 18 Jahren Dauerkartenbesitzer, seit 1996 Supportersmitglied. Als der HSV 2015 in buchstäblich letzter Minute beim Karlsruher SC in der Relegation die Klasse hielt, war Mädge „besoffen vor Freude“ im Stadion. „Das war meine Meisterschaft“, sagt er. „Über einen Titelgewinn hätte ich mich nicht stärker freuen können.“

Doch die Freude schlug schon bald in Trauer, Frust und sogar Wut um. Denn wer dachte, dass nach zwei Jahren in der Relegation und am Abgrund nun alles besser werden würde, der irrte. „Man hofft jedes Jahr auf Besserung, aber dann kommt es doch wieder wie gewohnt“, sagt auch Torben Ornfeld. „Manchmal erschrecke ich mich, wie selbstverständlich man Niederlagen mittlerweile hinnimmt.“

Ornfeld, Mädge und Kutup sind das, was man allgemein als die Treusten der Treuen bezeichnet. Fans, Dauerkartenbesitzer, Auswärtsfahrer. Doch genau wie im Rest der Stadt macht sich selbst bei ihnen Resignation breit. „Wer glaubt, dass am Ende sowieso wieder alles gut wird, dass am Ende wieder 5000 Fans Spalier stehen, wenn es um alles oder nichts geht, der könnte sich leider irren“, sagt Mädge.

Das subjektive Gefühl der Entfremdung ist objektiv mit Zahlen zu belegen. Zu den letzten drei Heimspielen kamen so wenige Anhänger wie selten zuvor: 46.440 Zuschauer gegen Hoffenheim, 45.226 Fans gegen Wolfsburg und der absolute Tiefpunkt und Minusrekord seit 13 Jahren: 40.983 Anhänger gegen Frankfurt. „Es ist erstmals in den vergangenen 15 Jahren der Fall gewesen, dass wir zwei Bundesligaspiele innerhalb von vier Tagen hatten“, relativiert Ticketingchef Voerste. „Es wären sicher mindestens 9500 Zuschauer mehr gekommen, wenn das Spiel an einem Wochenende stattgefunden hätte.“

Mag sein, mag aber auch nicht sein. Unstrittig ist eine gewisse HSV-Müdigkeit in der Stadt. „Die Leute sind erschöpft vom ständigen Abstiegskampf, irgendwann sind Kraft und Energie zurückgegangen“, sagte Joachim Ranau, der leitende Fanbeauftragte des HSV, der „Bild“-Zeitung. „Immer Abstiegskampf, das zehrt an den Nerven. Viele Fans wünschen sich mal eine ganz normale Saison im Tabellenmittelfeld.“

Ein frommer Wunsch, den sich Torben Ornfeld längst abgeschminkt hat. „Hoffnung macht mir momentan eigentlich gar nichts“, sagt der 43-Jährige – und spricht das aus, was eigentlich kein Fan aussprechen will: „Ich denke des Öfteren darüber nach, ob ein Abstieg heilsam wäre. Aber ehrlich gesagt glaube ich, dass dann der Verein endgültig ins Strudeln geraten würde und vielleicht noch weiter abrutschen würde.“

Ganz so weit ist es aber noch nicht. Immerhin neun Heimspiele hat der HSV noch, um den Albtraum zu verhindern. „Wir müssen unsere Heimstärke zurückgewinnen, denn in der Rückrunde haben wir viele Heimspiele gegen Tabellennachbarn. In diesen Spielen werden die ganz wichtigen Punkte vergeben, die müssen wir gewinnen“, sagt Trainer Markus Gisdol, dem Clubchef Heribert Bruchhagen nur zustimmen kann: „Die Fans haben uns schon häufig getragen.“

Die Geschichte vom heimstarken HSV wurde in dieser Saison schon häufig erzählt, wirklich stimmen tut sie deswegen allerdings noch nicht. So wurden von neun Heimspielen gerade einmal drei gewonnen. Und an einen Heimsieg im Duell Vorletzter gegen Letzten will auch niemand so wirklich glauben – auch nicht Ornfeld, Mädge und Kutup.

In dieser Saison war nur ein HSV-Heimspiel ausverkauft

Ist die Situation also hoffnungslos? „Natürlich nicht“, sagt Kutup. Der Kaufmann findet trotz allem gleich drei gute Gründe, die ihn nicht verzweifeln lassen: „Die unerklärliche Eigenschaft der Hamburger, in Krisenzeiten enger zusammenrücken zu können als gedacht. Der Rückhalt. Und ganz einfach Glück.“

Das Gastarbeiterkind in dritter Generation darf man einen unverbesserlichen Optimisten nennen. „Was mich, wenn ich wirklich ehrlich bin, bei der Stange hält: Wenn wir nächstes Jahr Meister werden, dann hab ich meinem HSV nie den Rücken gekehrt“, sagt der Familienvater. „Dieser unbegründete Optimismus ist es, glaube ich, was das ,Fan-Dasein‘ so einzigartig macht.“ Und wo ist Kutup am Sonnabend um 18.30 Uhr? „Im Stadion. Wo sonst?“