Jerez de la Frontera. Auch Douglas Santos kann das Verhalten seines Zimmernachbarn nur wenig verstehen.Doch selbst er kennt nicht die ganze Geschichte

Das Vormittagstraining des HSV am Sonntag war schon ein paar Minuten vorbei, als Douglas Santos vor dem kleinen Umkleidehäuschen direkt am Platz noch warten musste. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Walace kam und sich die beiden Brasilianer auf den gemeinsamen Rückweg über den Golfplatz ins Mannschaftshotel Barcelo Montecastillo machen konnten. Rechts Walace, 1,88 Meter groß, ein Kreuz wie ein Möbelpacker, die Arme großflächig tätowiert. Links Santos, 1,73 Meter klein, ein wenig schmal auf der Brust, schüchternes Lächeln. Die ungleichen Zimmernachbarn haben viele Gemeinsamkeiten – und sind doch von Grund auf verschieden.

„Jeder hat seinen eigenen Kopf. Ich bin ein wenig zurückhaltender als er“, sagt Santos, als er es sich nach dem Mittagessen in der Sitzecke der Hotelbar bequem macht. Santos ist 23 Jahre alt, Walace ist 22 Jahre alt. Beide wohnen in einem Haus am Mittelweg. Zusammen haben sie bei Olympia in Rio Gold geholt, sind anschließend für viel Geld zum HSV gewechselt. Walace kam im vergangenen Winter für 9,2 Millionen Euro, Santos kam ein halbes Jahr früher für 7,5 Millionen Euro. Und natürlich wurde Hamburgs Linksverteidiger in den vergangenen Tagen oft nach seinem Landsmann gefragt. „Ich kann nicht für ihn antworten“, gibt Santos brav zu Protokoll, ehe er für seine Verhältnisse doch sehr direkt wird: „So eine Sache wie Walace würde ich wohl nicht machen. Auch in Brasilien ist so ein Verhalten nicht normal. Aber er hat sich entschieden, seine Sache so durchzuziehen, also hat er sie auch durchgezogen. Walace wird seine Gründe gehabt haben.“

Diese Gründe musste der „Streikprofi“, wie Walace seit seiner ungenehmigten Urlaubsverlängerung in den Zeitungen genannt wird, am Freitag Clubchef Heribert Bruchhagen und am Sonnabend Trainer Markus Gisdol erklären. „Man sollte das Fehlverhalten nicht überhöhen. Damit macht man es wichtiger, als es für die Gruppe insgesamt ist“, sagte Gisdol, der mittelfristig wieder auf den Brasilianer trotz dessen Verfehlungen setzen will. „Wir sind davon überzeugt, dass wir ihn wieder in die Gruppe integrieren können“, sagt auch Sportchef Jens Todt, der sich seit Walaces verspäteter Ankunft gleich mehrfach mit dem Fußballer und dessen Berater Rógerio Braun zusammengesessen hat. „Rógerio kümmert sich vorbildlich um Walace“, sagt Todt. „Er ist glücklicherweise einer der Guten.“

Dieser Gute sitzt auf der Hotelterrasse und macht ein ernstes Gesicht. „Natürlich hat Walace einen Fehler gemacht“, sagt Braun. „Er ist 22 Jahre alt. Und manchmal muss man auch die ganze Geschichte kennen, ehe man sich ein endgültiges Urteil erlaubt.“

Zumindest die halbe Geschichte ist bekannt: Walace spielte in der Vorrunde wenig, wurde gegen Frankfurt nach nur 35 Minuten ausgewechselt („das hat ihm sehr wehgetan“) und hat nun die Sorge, dass er seine letzte WM-Chance durch seinen Stammplatz auf der Bank verpasst. „Die Chance ist gering, aber sie ist da“, sagt Braun, der bestätigt, dass es mehrere Interessenten aus Brasilien gibt.

Besonders Flamengo Rio de Janeiro sei sehr hartnäckig. „Ich kann aber auch den HSV verstehen, dass der Club einen wichtigen Spieler im Winter nicht abgeben will“, sagt Braun, der lange überlegt, ob er auch die andere Hälfte der Walace-Geschichte preisgeben will.

Douglas Santos sagt, dass er diese andere Hälfte der Geschichte nicht kennt. „Wir haben nicht über seine genauen Gründe gesprochen. Walace muss sich einfach überlegen, was das Beste in dieser Situation für ihn ist.“ Sportlich gebe es aus seiner Sicht ohnehin nur eine Möglichkeit, wie man reagieren könne: „Ich war im Sommer auch wütend. Aber nicht auf den Club, ich war sauer auf mich selbst“, sagt Santos, den der HSV im vergangenen August am liebsten an den PSV Eindhoven abgegeben hätte. „Ich wusste, dass ich besser spielen kann. Das muss ich dann aber auch dem Trainer beweisen. Ich habe in Deutschland gelernt, dass man für das, was man will, kämpfen muss.“

Das Problem ist nur, dass nicht jeder Kampf auf dem Fußballfeld entschieden wird. „Auch wenn das kaum einer glaubt, aber Walace hatte tatsächlich einen privaten Grund, warum er länger in Brasilien bleiben wollte“, sagt Braun, der nach einigem Zögern dann doch die andere Hälfte der Geschichte erzählt. So sei Walaces Lebensgefährtin Kamila im siebten Monat schwanger und hätte von einem deutschen Arzt die Genehmigung bekommen, über die Feiertage mit Walace und ihrem gemeinsamen Sohn Wallan ein letztes Mal vor der Geburt des zweiten Kindes in die Heimat zu reisen. In Brasilien habe es dann aber einen Zwischenfall gegeben, und ein Arzt habe Kamila strengstens empfohlen, keinen Langstreckenflug nach Europa auf sich zu nehmen. „Walace war sehr erschüttert, als ihm klar wurde, dass er nicht mit seiner Familie nach Europa zurückkehren konnte und dass er wohl auch nicht bei der Geburt seines zweiten Kindes dabei sein kann“, sagt Braun, der von Todt sogar die Ausnahmegenehmigung bekommen hat, mit der Mannschaft zurück nach Hamburg zu fliegen, um sich vor Ort noch einige Tage um den Bald-Zweifachpapa zu kümmern.

„Walace scheint normal. Er albert auch herum, aber über seine Situation redet er nicht“, sagt Santos, der im Trainingslager sogar als „Anti-Walace“ bezeichnet wird. Dabei unterscheidet derzeit vor allem eines die beiden Brasilianer. „Ich bin sehr glücklich“, sagt Santos, und lächelt. „Ich danke Gott.“