Die Olympischen und Paralympischen Spiele sollten in Brasiliens Metropole eine bessere Zukunft einleiten. Doch gut 15 Monate danach hat sich die Situation dramatisch verschlechtert. Korruption und Kriminalitätbestimmen den Alltag an der Copacabana

Marina Lara hat einen Traum. Eines Tages will die Brasilianerin von Frankreich nach England schwimmen, genauer gesagt von Calais nach Dover. 27 Kilometer durch den Ärmelkanal. Marina steht am Ufer des berühmten Strandes von Ipanema in Rio de Janeiro und blickt in die Ferne. Vor ihr liegt eine kleine Insel. Ilhas Cagarras. Fünf Kilometer entfernt. Sie ist das nächste Ziel der Schwimmerin, die vor fünf Jahren von Brasilia nach Rio gezogen ist.

Dass Marina nicht nur von der Wasserstraße zwischen Frankreich und England träumt, sondern auch von einer Reise nach Europa, hat viel zu tun mit der dramatischen politischen Situation in Rio gut 15 Monate nach dem Ende der Olympischen und Paralympischen Spiele. Hier am Stadtstrand von Ipanema ist davon zwar kaum etwas zu spüren. Die Cariocas, so nennen sich die Einheimischen von Rio, surfen auf den Wellen des Südatlantiks, spielen Beachsoccer oder genießen den famosen Sonnenuntergang auf den Felsen von Arpoador. So wie sie es jeden Tag tun. Doch die Realität der Stadt ist derzeit eine andere. Rio geht es schlecht – sehr schlecht. „Die Stadt durchlebt eine schreckliche Zeit“, sagt die 24-jährige Marina.

Sie blickt auf ihr Handy. Schon wieder eine Schießerei. Auf einer lokalen App kann man verfolgen, wo es in der Stadt zu Schüssen kommt. Fast stündlich vermeldet die App neue Nachrichten. Insbesondere in der Rocinha, der größten Favela am Rande von Ipanema, ist die Lage eskaliert. Vor acht Wochen hat das Militär die außer Kontrolle geratene Favela besetzt, um den Drogenkrieg in den Griff zu bekommen. Dabei kam es in dem Armenviertel zu Kämpfen, die Beobachter als kriegsähnliche Zustände beschreiben. Mitte Oktober wurde eine spanische Touristin in der Rocinha erschossen, weil die Militärpolizei die Besuchergruppe in dem Taxi nicht identifizieren konnte.

Doch es sind nicht nur die bewaffneten Kämpfe in den berüchtigten Favelas, die Rio in Atem halten. Die Korruption bestimmt das politische Leben in der Olympiastadt von 2016, die hohe Kriminalität ist eine der Folgen. Für Touristen ist die Stadt zwar weitestgehend sicher. Das Militär ist wieder auf den Straßen zu sehen. Dabei geht es aber vorrangig um ein Sicherheitsgefühl, nicht um die tatsächliche innere Sicherheit. An der weltberühmten Copacabana kommt es mehrmals am Tag zu Raubüberfällen. Kürzlich wurden sogar die Pet Shop Boys Opfer eines Raubs. So wie den Musikern ergeht es vielen Touristen.

Dabei ist es noch keine 16 Monate her, dass die Welt auf Rio blickte und von der Metropole mit den bunten Bildern der Olympischen und Paralympischen Sommerspiele begeistert war. Doch etwas mehr als ein Jahr nach dem Ende des Großereignisses werden die Auswirkungen immer deutlicher. Die Austragung der Spiele, die für die Stadt mit großen Hoffnungen verbunden war, entpuppt sich nach und nach als großes Dilemma. „Die Stadt ist noch ärmer als vorher, die Arbeits- und Obdachlosigkeit sind wieder gestiegen, und viele Menschen ziehen weg, weil sie keine Hoffnung mehr haben“, sagt Marina, die Studentin und Schwimmerin. Sie hat während der Olympischen Spiele zahlreiche Gäste in ihrer Wohnung betreut. Allzu gern erinnert sie sich zurück an das Olympia-Gefühl, das die Probleme und Sorgen der Stadt für wenige Wochen vergessen ließ.

Dass Rio seit dem Erlöschen der olympischen Flamme im Korruptionssumpf versinkt, hat nicht nur, aber viel mit der Austragung der Spiele zu tun. Erst vor wenigen Wochen wurde Carlos Nuzman, Chef des brasilianischen Olympia-Komitees, IOC-Ehrenmitglied und Cheforganisator der Spiele 2016, wegen des Vorwurfs verhaftet, die Spiele für Rio gekauft zu haben. Zudem wird dem ehemaligen Olympia-Bürgermeister von Rio, Eduardo Paes, vorgeworfen, Schmiergelder von mehr als drei Millionen Euro angenommen zu haben. Der ehemalige Gouverneur von Rio, Sérgio Cabral, der die Spiele in die Stadt gebracht hat, wurde zu 45 Jahren Haft verurteilt – unter anderem wegen Geldwäsche rund um das Maracanã-Stadion und des Anführens einer kriminellen Organisation. „Dies sind nur die Spitzen der Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit den Sportgroßveranstaltungen in Brasilien und anderswo“, sagt Dennis Pauschinger. Der Kriminologe aus Hamburg beschäftigt sich seit Jahren mit der politischen Entwicklung von Rio.

Während der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016 hat Pauschinger in Rio die Polizei begleitet und Interviews mit Spezialeinheiten geführt, die täglich in Kampfhandlungen in den Favelas verwickelt sind. „Deren Aussagen, Erlebnisse und Gefühle in ihrer Einheit und ihren täglichen Einsätzen sind mit denen von Soldaten in Kriegsgebieten wie Afghanistan zu vergleichen“, sagt Pauschinger. Seit seiner Forschung sind zwei der Polizisten aus der Einheit ums Leben gekommen. Einer bei einem Überfall, der andere während eines Einsatzes. „Die Polizisten vergleichen ihre tägliche Arbeit mit der unmöglichen Aufgabe, einen Eisblock zu trocknen, der jeden Tag aufs Neue wächst. Das produziert ein unglaublich großes Potenzial an Frustration und nährt die Spirale der Gewalt in der Stadt. Die jüngsten Entwicklungen nach Olympia haben dies nur verstärkt“, sagt Pauschinger.

Hintergrund dieser Entwicklung ist einer der größten Korruptionsfälle in Südamerika. In der sogenannten „Car Wash“-Ermittlung rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras ist auch die Organisation der WM und der Olympischen Spiele in den Fokus gerückt. Die meisten Bauten für die Sportgroßveranstaltungen wurden mit öffentlichen Geldern finanziert. Mehrere Millionen flossen dabei in die Taschen von Politikern. Die größten brasilianischen Baufirmen, die im Petrobras-Skandal eine zentrale Rolle spielen, waren für viele der Olympiabauten zuständig.

Der Olympiapark von Rio, in dem die meisten Bauten stehen, bietet heute ein biederes Bild. Wer mit der Metro und dem Bus vom Zentrum rund eine Stunde hierher in den Süden der Stadt in die leblose Hochhauswüste von Barra da Tijuca fährt, der sieht zwar zunächst einige positive Auswirkungen der Spiele. So hat etwa die Metrolinie den Süden an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden. Kritiker sagen jedoch, dass nur der ohnehin wohlhabende Süden von den Spielen profitierte, während die armen Viertel im Norden mit Olympia nichts zu tun hatten und weiterhin ein trostloses Dasein pflegen. „Die Spiele haben die sozial-ökonomische Spaltung der Stadt vorangetrieben und verschärft. Die Stadtentwicklungsprojekte haben sich, wenn überhaupt, nur minimal für die Menschen ausgezahlt“, sagt Rio-Experte Pauschinger.

Die Fahrt zum Olympiapark lohnt sich im Herbst 2017 indes kaum. Die 1,4 Millionen Quadratmeter Fläche, auf der im vergangenen Jahr Athleten in 16 Sportarten um Medaillen kämpften, wirken wie ein riesiges verlassenes Dorf, das in Vergessenheit geraten ist. Hier an der Jacarepaguá-Lagune riecht es modrig. Das Gelände ist weiträumig abgesperrt. Gelegentlich finden hier kleinere Sportveranstaltungen statt. Die meisten Anlagen wie das Velodrom, die Schwimmarena oder das Tennisstadion rotten jedoch vor sich hin. Im Gegensatz zur gescheiterten Hamburger Bewerbung gab es in Rio offensichtlich kein Rückbaukonzept. Die Hotels am Rande des Olympiaparks gleichen einer Geisterstadt. Im September fand hier auf dem Gelände das große Festival „Rock in Rio“ mit 200.000 Besuchern statt. Auch Marina war dabei. Für einen Moment kehrte das Olympia-Gefühl zurück. „Die Struktur des Olympiaparks eignet sich perfekt für solche Veranstaltungen. Rio braucht mehr solcher Ideen“, sagt sie.

Auch wenn Marina von Europa träumt, kämpft sie in ihrer Heimat für eine bessere Zukunft. Sie will sich der Hoffnungslosigkeit vieler Cariocas nicht hingeben. „Rio ist eine Schönheit und mit all ihren Kontrasten eine einzigartige Stadt, die der Welt vieles geben kann. Die Hoffnung sollte man hier nie aufgeben. Es bedarf allerdings viel Arbeit und einer neuen Politik für einen Wandel.“

Doch wie dieser politische Wandel aussehen soll, weiß in Rio derzeit niemand. Dennis Pauschinger spricht von einer „Aushöhlung der demokratischen Prozesse“. Die Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff im August 2016 durch den Kongress bezeichnet er als „politisch motiviertes Manöver“, das nur wenig mit tatsächlichen Korruptionsvorwürfen zu tun gehabt habe. „Der gleiche Kongress hat den aktuellen Präsidenten Michel Temer, der mit viel schwerwiegenderen und konkreteren Anschuldigungen konfrontiert ist, nicht des Amtes enthoben, weil zu viele unter ihm profitieren“, sagt Pauschinger. Die Korruption und Missstände rund um die Spiele haben das Misstrauen der Menschen in die Politik verstärkt. „Ihr Glaube an demokratische Prozesse und Menschenrechte wurde noch weiter erschüttert.“

Neben der dramatischen Sicherheitslage kämpft Rio heute vor allem mit den finanziellen Folgen der Olympischen Spiele. Rund 13 Milliarden Euro hat das Großereignis verschlungen. Die Regierung des Bundesstaates Rio de Janeiro hat das Jahr 2016 mit einem Defizit von rund vier Milliarden Euro abgeschlossen und schon kurz vor den Spielen im Mai 2016 den finanziellen Notstand ausgerufen. Die Situation ist bis heute nicht besser geworden. Im August musste eine der größten und besten Universitäten, die Universität des Bundesstaates Rio de Janeiro (UERJ), den Unterricht einstellen, weil die Gehälter der Angestellten und die Zuschüsse für die Stipendiaten nicht mehr gezahlt wurden. Auch die Polizei hat seit den Spielen mit verspäteten Löhnen zu kämpfen, was zu einer weiteren Verschärfung der Sicherheitslage geführt hat. In diesem Jahr wurden schon mehr als 90 Polizisten erschossen. 2016 hatte es bereits einen starken Anstieg der Mordrate gegeben. Das staatliche Institut für Innere Sicherheit zählte in Rio 5033 Morde. Das entspricht einer Mordrate von 30,3 auf 100.000 Einwohner. 2015 hatte es noch 4200 Morde gegeben. Die Vereinen Nationen sprechen ab einer Rate von 10,0 von einer Epidemie.

Die Lebenslust lassen sich die Bewohner von Rio von diesen Zahlen nicht nehmen. Noch immer gehören die Brasilianer hier zu den fröhlichsten Menschen der Welt. Bei allem Frust bleibt eines sicher: Abends wird in Rio getanzt. In den Straßen des Ausgehviertels Lapa feiern die Einheimischen täglich. Und mit ihnen die vielen Touristen. Die meisten von ihnen bekommen jedoch gar nicht mit, in welcher Situation sich die Stadt befindet. Hier im Zentrum liegen zwar an jeder zweiten Straßenecke Obdachlose, doch zumindest Downtown haben die Olympischen Spiele zu einer Aufbesserung beigetragen – insbesondere im Hafen. Mit dem architektonisch spektakulären Museum of Tomorrow hat Rio durch die Spiele einen neuen Touristenmagneten gewonnen, der auch die Cariocas begeistert.

„Wie wollen wir leben?“, lautet eine der Fragen der Zukunft

Auf zwei Ebenen beschäftigen sich die Ausstellungen mit den Fragen der Zukunft. „Wie wollen wir leben?“, lautet eine der Fragen, die in einem Film in überdimensionaler Leuchtschrift an die Decke projiziert wird. Es ist die Frage, die Rio so schnell wie möglich beantworten muss. Geht es so weiter, verliert die Stadt viele junge Menschen, die etwa in Portugal eine bessere Perspektive sehen.

Junge Menschen wie Marina, die im Dezember für einige Wochen nach Deutschland fliegen wird. Junge Menschen, die Visionen haben für ihre Stadt. „Rio muss in die Natur und den Sport investieren, mehr als jede andere Stadt. Rio muss umweltbewusster werden. Wir brauchen mehr Radstrecken, weniger Verkehr. Und wir brauchen kulturelle Projekte und Bildung in den Favelas“, sagt Marina. Dieses Bild von Rio ist ein weiterer Traum in ihrem Leben. Ob sie irgendwann von Calais nach Dover schwimmen wird, ist fraglich. Sicher ist aber, dass Marina Rio nicht den Rücken kehren wird. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft hat sie noch nicht verloren.