Hamburg. Die Handballerinnen feiern im Finale einen 32:21-Sieg gegen Norwegen – ehrgeizige deutsche Ziele

„Allez les Bleus“ statt „Heia Norge“! Am Ende blieben den klar favorisierten Norwegerinnen und ihren wunderbaren etwa 5000 Fans in der mit 11.261 Zuschauern ausverkauften Barclaycard Arena nur die WM-Silbermedaillen. Die mit ihrer Präzision und ihrem Tempospiel so brillanten Titelverteidigerinnen waren sich nach ihren Demonstrationen gegen Olympiasieger Russland im Viertelfinale (34:17) und die Niederlande im Halbfinale (32:23) womöglich schon zu siegessicher. Sogar Norwegens Premierministerin Erna Solberg war als Glücksbringer angereist – und dann wurden die Skandinavierinnen in einem spannenden Endspiel von den defensivstarken Französinnen mit 23:21 (11:10) niedergerungen.

Für die Französinnen, den EM-Gastgeber 2018, war es erst der zweite WM-Titel nach 2003. Sie stemmten schunkelnd zu „We Are The Champions“ und Lametta-Regen die über­dimensionale Glas-Trophäe in die Luft, die zuvor die deutsche Rekordnationalspielerin und WM-Botschafterin Grit Jurack in die Halle gebracht hatte.

Für eine besondere Jubelszene vor dem Finale hatte Rafael van der Vaart gesorgt: Der Ex-HSV-Profi herzte mit seinem fünf Monate alten Töchterchen Jesslynn auf dem Arm seine Lebensgefährtin Estavana Polman, die WM-Bronze gewann. Die Niederländerinnen entschieden das Spiel um Platz drei gegen Schweden mit 24:21 (14:8) für sich. Polman (fünf Tore) war eine der Erfolgsgarantinnen. Van der Vaarts Sohn Damian (11) aus der Ehe mit Sylvie war auch wieder in der Halle.

Die 23. Frauenhandball-WM mit ihren 84 Partien in Hamburg, Leipzig, Magdeburg, Bietigheim, Oldenburg und Trier war organisatorisch ein voller Erfolg. Der ewige Präsident des Weltverbands IHF, Hassan Moustafa (73), der bei der Siegerehrung mit einem Pfeifkonzert und Buhrufen begrüßte „Sepp Blatter des Handballs“, konnte auf der Abschlusspressekonferenz erst in drei Anläufen die Gesamtzuschauerzahl auf Englisch aussprechen. (der Ägypter hat mal in Leipzig studiert und spricht deshalb besser Deutsch.) Die Zahl 237.263, die er sich irgendwann zusammengehaspelt hatte, ist der zweitbeste Besucherzuspruch in der Geschichte der Frauenhandball-Weltmeisterschaften – nach dem WM-Turnier 2007 im Frankreich (397.550).

Moustafa hatte schon im Vorfeld „eine der besten Weltmeisterschaften aller Zeiten“ erwartet. „Deutschland kennt sich mit der Organisation von solchen Turnieren aus.“ Er lobte die „freundlichen“ deutschen Frauenhandballfans, die auch nach dem Achtelfinal-Scheitern des Gastgebers weiter die Hallen gefüllt hätten.

Deutsche Bilanz: Frauen hinken zehn Jahre zurück

Mit einem Zwischenruf nahm der IHF-Präsident dann noch schmeichelhaft die enttäuschende deutsche Mannschaft und seinen Sitznachbar Andreas Michelmann, den DHB-Präsidenten, in Schutz: „Vier oder fünf Schlüsselspielerinnen haben Deutschland gefehlt!“ Da kam Moustafa wieder etwas durcheinander mit den Zahlen. Deutschland hatte zwei verletzte Leistungsträgerinnen (die Halblinke Kim Naidzinavicius und die Rückraum-Rechte Anne Hubinger), Rückraum-Shooterin Susann Müller war nicht nominiert worden.

Aber das frühe Ausscheiden der „Ladys“ von Bundestrainer Michael Biegler hatte noch ganz andere Gründe als das Fehlen dieses Trios. „Wir waren nicht so gut, wie wir dachten“, analysierte Michelmann, der vor dem Turnier das Final 4 in Hamburg als Verbandsziel ausgegeben hatte. „Die Versäumnisse liegen nicht in den vergangenen 20 Monaten, sondern in den vergangenen zehn oder 15 Jahren. Wir reden immer von Gleichberechtigung, aber im Grunde war Frauenhandball immer etwas Exotisches für uns.“

Buxtehudes Bundesligatrainer Dirk Leun glaubt, dass der Frauenhandball in seinen Strukturen zehn Jahre hinter dem männlichen Nachwuchs hinterherhinkt. Als Musterbeispiele nennt er die Handballinternate der Männer-Bundesligisten Berlin, Magdeburg und Leipzig. Eine vergleichbare Schul­kooperation habe es für Frauen nur in Leipzig gegeben, aber der Traditionsclub HC Leipzig musste vor dieser Bundesligasaison insolvenzbedingt zwangsabsteigen.

Ein weiteres Beispiel sind die Nachwuchszertifikate der Männer-Bundesliga – für einheitliche Standards wie die Trainingsqualität und die Qualität der Coaches. Leun: „Biegler ist in die Vereine gegangen und hat viele Impulse für neue Strukturen im weiblichen Nachwuchs gegeben.“

Aber es sei noch immer viel Improvisationstalent gefragt, so Leun. „Wir organisieren zum Beispiel einen Bus-shuttle, der unsere Spielerinnen aus Schleswig-Holstein und Hamburg abends nach dem Training nach Hause fährt. Am Steuer sitzen Fans, die das ehrenamtlich machen.“ Die Talente wie zum Beispiel U-17-Europameisterin Aimée von Pereira aus Herzhorn in Schleswig-Holstein vergeudeten viel Zeit mit Pendeln. In Top-Nationen wie Frankreich und den Niederlanden trainierten die Juniorinnen auch vormittags. Die Niederländer haben eine zentrale Akademie für den weiblichen Nachwuchs am Olympiastützpunkt in Papendal bei Arnheim.

Halle in Dulsburg auch für Buxtehude ein Meilenstein

Glücklich ist Leun über den heute erfolgenden Spatenstich des seit 2004 geplanten Landesleistungszentrums für Handball und Judo im Sportpark in Dulsberg. Die Halle soll 2019 eingeweiht werden. „Sogar für uns Buxtehuder ist das ein Meilenstein. Wir überlegen, ob unsere Trainer dann nach Hamburg fahren, um unseren Hamburgerinnen die Fahrerei zu ersparen.“

Dennoch: Mit dem frühen Aus des deutschen Teams habe man die Chance verpasst, „dass Frauenhandball mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit bekommt und wir leichter Sponsoren finden“, so Leun. Aber sportlich sei es zu befürchten gewesen. Er hält es für „gewagt“, eine Medaille bei Olympia 2020 als Ziel auszugeben. „Wir müssen uns erst einmal für Olympia qualifizieren.“ Andreas Michelmann hatte gesagt, man wolle in sechs bis acht Jahren zu den drei Top-Nationen gehören.

Dabei helfen soll Bieglers Nachfolger Henk Groener (57). Der Niederländer gilt als gute Wahl. Groener war zwischen 2009 und 2016 niederländischer Frauennationaltrainer und führte Oranje zu WM-Silber 2015 und Platz vier bei Olympia in Rio 2016. Durch seine Zeit als Spieler und Trainer beim Männer-Zweitligisten TV Emsdetten ist er ein Deutschland-Kenner. Aber ihn erwartet eine schwere Aufgabe.