Hamburg. Sportpsychologe Heiko Hansen analysiert die Krise beim Zweitligisten und zeigt mögliche Lösungen auf

Ein Satz fiel häufig in den vergangenen, von Misserfolgen geprägten Wochen beim FC St. Pauli. „Wir haben ein Kopfproblem“, offenbarten Spieler, Trainer und Verantwortliche unisono auf die Frage, woran denn die Krise der Fußballprofis in der Zweiten Liga liege. Bekanntlich ist Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung, doch der Kiezclub verzichtet darauf, einen Mentaltrainer zu beschäftigen. Ein Fehler, wie Heiko Hansen findet. „Auch das Gehirn, das unsere Schaltzentrale ist, kann man trainieren, genau wie die Muskeln“, sagt der 52-Jährige: „Aber leider tun wir uns in Deutschland noch immer schwer mit der Psychologie im Sport.“

Der mentale Aspekt wird oft noch als Tabuthema behandelt. Immer mehr Spieler nehmen sich zwar privat einen Mentaltrainer, trauen sich aber nicht, öffentlich darüber zu sprechen. Sie haben Angst, weil sie befürchten, dass ihnen das als Schwäche ausgelegt wird und der Trainer oder Mitspieler einem nicht mehr vertraut. „Mentaltraining hat einfach einen Couching-Touch, also dass man ganz klischeehaft beim Psychologen auf dem Sofa sitzt“, erklärt Hansen.

Der in Bad Bramstedt lebende Mentaltrainer weiß, wovon er redet. Seit Jahren arbeitet er intensiv mit Athleten und Vereinen aus diversen Sportarten zusammen. Seinen Einstieg in den Profifußball ermöglichte ihm Thomas Tuchel, der ihn während seiner Zeit beim FSV Mainz 05 um Rat fragte. „Tuchel stand dem psychologischen Aspekt sehr offen gegenüber. Leider ist das die Ausnahme und nicht die Regel“, erzählt Hansen, der als Freiberufler bereits mit mehreren Bundesliga- und Zweitligavereinen im Fußball zusammengearbeitet hat.

Auch der FC St. Pauli hatte in der Vergangenheit einen Sportpsychologen beschäftigt. Der damalige Trainer Roland Vrabec hatte den ehemaligen Bundesligaprofi Thomas Stickroth vor dreieinhalb Jahren in sein Team geholt. Es sollte ein kurzes Intermezzo für Stick­roth werden. Als Vrabec entlassen wurde, durfte er unter Nachfolger Thomas Meggle zunächst noch weiterarbeiten. Als im Dezember 2014 dann aber Ewald Lienen das Ruder übernahm, endete auch das Arbeitsverhältnis mit dem Mentaltrainer. Grund: Lienen sah sich selbst in der Lage, die Mannschaft psychologisch zu betreuen. Dabei hatten einige Spieler im Abstiegskampf die psychologische Hilfe damals dankend angenommen.

„Das ist die Denkweise der älteren Trainer, aber der mentale Aspekt ist heute um ein Vielfaches komplexer. Da sind uns Sportarten in den USA deutlich voraus. Sie sehen Mentalcoaching längst auf einer Stufe mit Athletiktraining“, sagt Hansen, der den Cheftrainer eher als Pädagogen denn als Psychologen sieht. „Darüber hinaus ist es nicht so, dass der Trainer die Köpfe der Spieler freikriegen muss. Das ist die Aufgabe der Profis selbst. Sie müssen sich jeden Tag fragen, ob sie alles dafür tun, um erfolgreich zu sein“, sagt Hansen und ergänzt: „Die zentrale Frage ist doch: Warum haben wir was und wie als Team, aber auch als Einzelspieler gemacht, als wir Erfolg hatten? Das sind die drei goldenen W.“

Dem Diplom-Sozialpädagogen fällt auf, dass sich St. Pauli das Leben selbst schwerer macht als notwendig. Vor allem die Tatsache, dass der Kiezclub im Misserfolgsfall häufig auf die desolate Hinrunde der Vorsaison verweist – man müsse ja bedenken, wo man herkomme –, missfällt dem Mentaltrainer. „Warum orientiert man sich nicht an der besten Rückrunde der Vereinsgeschichte? Man macht sich kleiner, als man ist. St. Pauli hat eine unterbewusste Lust zu leiden. Sie ziehen Energie aus Situationen, wo sie mit dem Rücken zur Wand stehen“, erklärt Hansen, der gespannt ist, wie sich der Kiezclub unter dem neuen Coach Markus Kauczinski entwickeln wird.

St. Pauli braucht einneues sportliches Leitbild

Dass ein Trainerwechsel kurzfristig etwas bringt, ist ebenso statistisch erwiesen wie die Tatsache, dass dieser Effekt mittelfristig verfliegt. „Weil die Probleme, die tiefgründig da sind, häufig auch nach einem Trainerwechsel bleiben“, sagt Hansen, der nicht nur das Trainerteam in die Pflicht nimmt. Um langfristig wieder erfolgreich zu werden, müsse sich St. Pauli ein neues sportliches Leitbild geben. „Aus der Legende heraus sieht sich St. Pauli gern in der Rolle des Underdogs. Es ist Qualität da, aber der Club weiß nicht, was seine Erfolgsidentität ist. Stabilität hängt aber nicht nur vom Können ab, sondern auch von der Identität“, sagt Hansen.

Am Montag (20.30 Uhr) steigt für St. Pauli die letzte Partie im turbulenten Kalenderjahr 2017. Ein Sieg gegen den VfL Bochum unmittelbar vor der Winterpause, so glaubt Hansen, würde dem Team nicht nur tabellarisch helfen. „Es wäre auch gut für die Selbstwirksamkeit, die einen positiven Schub erhalten würde. Wenn ich mich selbst in dem, was ich tue, als wirksam erlebe, dann gehe ich als Spieler mit diesem ersten kleinen Erfolgserlebnis ganz anders in die Winterpause und auch in die Spiele danach.“

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