HAMBURG. Eine muslimische Kampfsportlerin lehrt Hamburger Frauen Selbstverteidigung – Besuch bei einem Workshop

Der Hausmeister hat vergessen, die Heizung anzustellen. Entsprechend kalt ist es an diesem Sonnabendmorgen in der Turnhalle des Gymnasiums Corveystraße. Zwar haben sich mehr als hundert Frauen versammelt, doch während der einführenden Worte der Veranstalterinnen sowie der verlesenen Grußworte von Schirmherrin Aydan Özoguz, Regierungsbeauftragte für Integration, ist den meisten dennoch kalt geworden und sie holen sich Pullover und Jacken.

Es ist der internationale Tag der Frauenselbstverteidigung, der Termin also kein Zufall für diesen Workshop, den der Deutsche Ju-Jutsu Verband in Kooperation mit dem Deutschen Turner-Bund sowie dem Hamburger Verband für Turnen und Freizeit (VTF) veranstaltet. Es geht um Gewalt gegen Frauen und wie sie sich möglichst effektiv schützen können. Gerade eben sind die aktuellen Zahlen aus Deutschland bekannt geworden: Jeden zweiten Tag stirbt eine Frau durch häusliche Gewalt.

Prominenter Ehrengast der Veranstaltung ist Lina Kalifeh (33), eine Mus­lima aus Jordanien, die als Kampfsportlerin viele internationale Medaillen gewann. Seit dem verletzungsbedingten Ende ihrer sportlichen Karriere engagiert sie sich für die Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit von Frauen. Und dazu gehört angesichts männlicher Vorherrschaft eben auch die Selbstvertei­digung. 2012 gründete sie in Amman die erste Kampfsportschule für Frauen im arabischen Raum. Inzwischen sind ihre „She Fighter“ zu einer internationalen Bewegung geworden und selbst Barack Obama, der ehemalige US-Präsident adelte sie 2015 für ihr Engagement. Kalifeh reist mit 15 Trainerinnen durch die Welt, hält Kurse und Workshops ab und bietet Vorträge an. Auch zum Thema Selbstbewusstsein stärken. 10.000 Frauen haben ihr schon zugehört und zugesehen.
In Deutschland ist sie das erste Mal, aber als sie zur Begrüßung charmant einfließen lässt, dass sie „guten Tag“ und „Tschüs“ bereits gelernt hat, sind ihr die Frauen zugetan und freuen sich auf die praktischen Übungen, die ihnen zeigen sollen, wie man sich gegen Übergriffe wehrt.

Als es nach dem Aufwärmen gleich zu Beginn darum geht, mit einem Fußhebel, den vermeintlichen Angreifer zu Fall zu bringen, stockt den anwesenden Judo-Trainerinnen allerdings kurz der Atem. Viele der Teilnehmerinnen sind ungeübt in diesen Techniken und besonders Fallen will gelernt sein. „Das ist ein bisschen zu gefährlich“, sagt Fatma Keckstein, als Referentin des Ju-Jutsu Verbandes, Expertin in Sachen Frauen und Selbstverteidigung. Auch sie hat an diesem Vormittag schon mit den Frauen geübt: einfach zu lernende Griffe und Schläge an Stellen, wo es besonders schmerzhaft ist: Schienbein, Knie, zwischen den Beinen, auf den Solar-Plexus, den Kehlkopf, Nase und Ohren. Doch weil die nachfolgenden Übungen von Kalifeh mehr Bodenhaftung haben, beruhigt sich Fleckstein mit den Kolleginnen wieder und freut sich stattdessen, dass die Veranstaltung so viel Anklang gefunden hat.

Ein paar Frauen mit Hidschab und Abaya, Kopftuch und langem Überwurf, sind ebenfalls dabei. „Sie sind Mitglieder der Organisation „Sister United“, sagt Keckstein. Eine Vereinigung von Musliminen, die sich gegenseitig stützen und starkmachen will. „Ich freue mich, dass sie sich hierher getraut haben.“ Männern ist der Zutritt zu diesem Workshop verwehrt.

Der Altersdurchschnitt der Frauen ist wie die Herkunft bunt gemischt. Auf Nachfrage zeigt sich, dass viele von ihnen mitmachen, weil sie Vorsorge treffen wollen. Gewalterfahrung gibt keine offen zu. Stattdessen erzählen zwei junge Thailänderinnen, von ihren Männern geschickt worden zu sein. Damit sie sich im Falle des Falles wehren können. Pfefferspray hätten sie sowieso immer dabei. Die Erklärung zweier Seniorinnen: „Man liest ja so viel ...“

Erneut ertönt die etwas militärisch anmutende Trillerpfeife von Kalifeh, die eine weitere Übung zeigen will. Dass sie sich als muslimische Frau aus einem arabischen Land selbstverständlich frei bewegen kann, hat sie einem liberalen Elternhaus zu verdanken. Ein Cousin betrieb eine Taekwondo-Schule, und weil die kleine Lina ein Wildfang war, durfte sie sich schon als Fünfjährige ausprobieren. Mit 14 Jahren war klar, Kampfsport ist ihr Ding. Als sie ihre Leidenschaft zum Beruf machte, hofften die Eltern zwar, es wäre nur eine vor­übergehende Idee. „Inzwischen akzeptieren sie, was ich mache, und sind stolz.“ Natürlich ist Kalifeh, die mit Auftreten und kurzen Haaren Jungenhaftigkeit betont, Anfeindungen ausgesetzt. Doch ihr Selbstbewusstsein benutzt sie wie ein Schutzschild. „Ich habe keine Angst.“ In ihrem Heimatland, erzählt sie, setzt sich langsam durch, dass Frauen geschützt werden müssen, auch in der Familie.

Derweil freuen sich Keckstein und Dörte Kuhn, die neue Vorsitzende des VTF und seit zwei Wochen eine von fünf Vizepräsidenten des Hamburger Sportbundes (HSB), über die gute Laune, die alle Teilnehmerinnen erkennbar haben. Nicht immer werden die Übungen exakt nachgestellt, doch allein die Idee, etwas zu lernen, was Physis und Psyche stärkt, scheint sie zu beflügeln. „Ein tolles Projekt“, sagt Kuhn. Und auch Keckstein ist zufrieden. „Wer sich verteidigen kann, wirkt selbstsicherer. Das ist Gewalt-Prävention.“