Hamburg. St. Paulis wiedergewählter Präsident Oke Göttlich kämpft gegen den ungebremsten Kapitalismus und findet Vorbilder im US-Sportsystem

Der Plan ist aufgegangen. Durch seinen Rücktritt und die anschließende Wiederwahl bis 2021 – mit 98,2 Prozent Zustimmung – kann Präsident Oke Göttlich (41) den FC St. Pauli gemeinsam mit den bisherigen Vizepräsidenten Joachim Pawlik und Jochen Winand sowie den neuen Vizepräsidenten Christiane Hollander und Carsten Höltkemeyer in den nächsten Jahren führen und richtungsweisende Entscheidungen nicht nur treffen, sondern auch mit Inhalten füllen. Nach der Wahl am Donnerstagabend sprach das Abendblatt mit Göttlich über die Vorhaben seiner vierjährigen Amtszeit. Im Einzelnen sagte er ...


... über die Mitte 2018 fällige Rückzahlung der Fan-Anleihe in Höhe von acht Millionen Euro:
„Bei der Refinanzierung der Anleihe haben wir uns entschieden, dass wir dafür keine neue Anleihe auflegen, also nur die eine Anleihe mit der nächsten tauschen wollen, wie es die meisten Fußballvereine tun. Stattdessen wollen wir, unserer Maßgabe der wirtschaftlichen Solidität folgend, geräuschlos nach außen Mittel akquirieren, um die Anleihe zu refinanzieren sowie unseren Weg der Unabhängigkeit fortzuschreiben. Den infrage stehenden Unterstützern, Partnern und Institutionen ist sehr daran gelegen zu wissen, wie es auch über 2018 hinaus im Verein an leitender Stelle weitergeht. Auch dies ist ein wichtiger Grund, jetzt das Präsidium für die nächsten vier Jahre gewählt zu haben.

Eine Anleihe sollte eine Geschichte haben, warum die Leute uns ihr Geld geben sollten. Das war bei der alten Anleihe gegeben, weil wir damit die Nordtribüne des Stadions und das Trainingszentrum an der Kollaustraße durch unsere Vorgänger verlässlich und korrekt finanziert haben – auch im Gegensatz zu anderen Clubs, die ihre Anleihe dann zur sportlichen Entwicklung zweckentfremdet haben. Derzeit haben wir leider keine solchen Infrastrukturprojekte, obwohl wir wirklich dringend Bedarf zur Weiterentwicklung unseres Nachwuchsleistungszentrums haben – vor allem in der Frage nach Flächen.“


... zur Trennung vom Vermarkter U! Sports: „Unsere Mittelakquise hilft uns zusätzlich, um unsere Vermarktung zukünftig neu aufzustellen. Der Schritt in die Eigenvermarktung ist keine Entscheidung gegen unseren Partner, sondern für unsere Unabhängigkeit und für den festen Glauben, dass eine Partnerbetreuung dahin gehört, wo sie zu Hause ist. Es werden sich im Vertrieb Synergien mit dem Merchandising ergeben. Das ist ein Schritt, den Verein noch personenunabhängiger aufzustellen. Wenn uns allen morgen ein Stein auf den Kopf fällt, wäre für Nachfolger das Feld bereitet, handlungsfähig zu sein.“


... über die Herausforderung, auch künftig ohne Ausgliederung und Investorenhilfe im Profifußball zu bestehen:
„Alle großen Wettbewerber um die vorderen Plätze der Zweiten Liga sammeln Geld ein, auf welche Art auch immer, um es direkt in den Sport zu investieren. Das tun wir aus verschiedensten Gründen nicht. Wir wollen uns nicht an einem Roulettespiel beteiligen in dem Glauben, mit einer Million Euro mehr ganz sicher Platz eins bis fünf zu belegen. Wir glauben nicht daran, dass man einen Aufstieg kaufen kann. Stattdessen gehen wir als mitgliedergeführter Verein unseren sanktpaulianischen Weg weiter. Dabei können wir unser künftiges Alleinstellungsmerkmal unter den 36 Profivereinen sogar noch ausbauen. Damit meine ich unser Vereinsleben mit dem sozialgesellschaftlichen Auftrag in dem Stadtteil und der Stadt, in der man lebt. Dabei definieren wir uns eben nicht als Verein, der sich nur um den Profifußball kümmert, sondern der durch die Partizipation der Mitglieder soziale Themen bearbeitet und somit glaubwürdig und bodenständig bleibt für die Menschen, die gerade dabei sind, den Glauben an den Fußball verlieren.

Für diesen Weg erfahren wir auch viel Unterstützung von Firmen, Institutionen und Behörden. Das ist keine Abkehr vom Profifußball und vom Wunsch, den größtmöglichen sportlichen Erfolg zu haben, aber wir wollen nicht wie andere Wettbewerber uns irgendwo fünf Millionen Euro leihen und diese direkt in den Sport-Etat packen.“


... zum wirtschaftlichen Potenzial der geschätzt weltweit 19 Millionen Sympathisanten:
„Mit jedem Kauf eines offiziellen Merchandising-Artikels, eines Tickets, eines Wassers und einer Bratwurst im Stadion helfen wir hier dem Verein auf seinem Weg, mitgliedergeführt und nicht investorengesteuert zu sein. Das muss jedem klar sein – auch jedem, der meint, er muss eigene St.-Pauli-Shirts auf den Markt bringen. Wenn wir eine Bewegung für ehrlichen Fußball abseits investorengestützter Modelle sein wollen, müssen wir gemeinsam als Mitglieder, Fans und Sympathisanten an die Sache glauben und diese auch unterstützen.“


... über den Ausbau internationaler Kontakte, insbesondere in die USA:
„Ich finde es spannend zu sehen, wie viele offizielle Fanclubs sich in den vergangenen zwei Jahren gebildet haben, etwa in Katalonien und auch in Toronto, ohne dass wir das aktiv vorangetrieben hätten. Wir haben sehr interessante Verbindungen in den nordamerikanischen Fußball. Dort wird sehr fankultu­rell gedacht und der Fußball, so wie er hier vor 20 Jahren noch organisiert war, als Vorbild angesehen. Wir bekommen häufiger Besuch von MLS-Club-Vertretern, die im Grunde den FC St. Pauli in den USA kopieren wollen, um es etwas überspitzt zu formulieren. Es ist schon kurios, wenn ein milliardenschwerer Investor und Clubeigner aus den USA hierherkommt und von uns wissen will, wie er eine Mitgliederbeteiligung praktizieren kann. Wenn wir ihm das dann hier vor Ort zeigen, bekommt er den Mund nicht mehr zu. Man erlebt beinahe asynchrone Entwicklungen. Wo der europäische Fußball auf Teufel komm raus auf amerikanische Sportinvestorenstrategie setzt, kommen die Amerikaner und wollen wissen, wie auch gesellschaftliches Miteinander im Sportkontext funktionieren kann.“


... über positive Aspekte des nordamerikanischen Sportsystems:
„Auch wir sollten uns überlegen, ob es dort nicht ein paar Dinge gibt, die wir übernehmen könnten. Es ist doch eine Farce, dass wir es hier nicht schaffen, innerhalb des Profifußballs eine solidarische und vernünftige Geldverteilung zu realisieren. Da ist uns selbst das kapitalistischste Sportsystem auf der Welt um Längen voraus. Wenn uns das schon nicht gelingt, müssen wir uns wenigstens mit einer Gehaltsobergrenze und einem Draftsystem auseinandersetzen. Dann würde ein Leon Goretzka nämlich bei uns spielen und nicht demnächst in Paris oder sonst wo. Wir haben in Europa heute im Fußball das ungesteuertste, kapitalistischste System. Das führt dazu, dass das Produkt stinkend langweilig wird – mit herzlichem Gruß an Paris Saint Germain. In den USA ist es undenkbar, dass immer dieselben Clubs Meister werden. Den Auf- und Abstieg dürfen wir uns aber nie nehmen lassen.“


... über die Qualität des Zweitligateams:
„Mit der Mannschaft, die wir jetzt haben, sind wir in der Lage, in der Zweiten Liga oben mitzuspielen, auch in höhere Gefilde zu stoßen.“