London. Tennisprofi Alexander Zverev übt nach dem Verpassen des WM-Halbfinales Selbstkritik. 2018 gilt es, die Einsätze noch besser zu dosieren

Ein paar Tage vor der Tennis-Weltmeisterschaft wurde Alexander Zverev gefragt, wie gut er inzwischen mit schweren Niederlagen klarkomme. Er sei „gewiss keiner, der besonders gut verlieren kann“, antwortete Zverev. Und fügte dann hinzu: „Ich trauere dem jetzt aber nicht mehr lange nach, sondern stürze mich wieder in die Arbeit. Denn in der nächsten Woche gibt es schon wieder ein neues Turnier.“

Aber jetzt, nach dem 16. November 2017, kommt erst mal kein neues Turnier, keine neue Chance. Keine Möglichkeit zum Vergessen, Verdrängen oder schnellem Verarbeiten. Binnen weniger Sekunden war am späten Donnerstagabend Zverevs weitgehend großartige Saison ernüchternd beendet. Es stand 4:5 und 30:30 im dritten und entscheidenden Satz seines letzten Gruppenspiels gegen den US-Amerikaner Jack Sock, des Alles-oder-Nichts-Spiels um den Einzug ins Halbfinale, da servierte der Hamburger zunächst einen Doppelfehler – 30:40 also, Matchball Sock.

Ein längerer Ballwechsel folgte, bei dem Zverev schließlich eine leichte Vorhand ins Aus setzte. 4:6, 6:1, 4:6 – aus und vorbei das Spiel, das Turnier, das Tennisjahr 2017. Mit einem schonungslosen Selbstzeugnis des 20-Jährigen, der aktuellen Nummer drei der Weltrangliste: „Ich habe versagt. Die Nerven haben mir einen Streich gespielt.“ Dazu bemängelte Zverev den ganzen Tennisherbst, die Zeit nach den US Open im September: „Da habe ich überwiegend Mist gespielt.“ Er wird diesen Frust nun erst einmal mitnehmen, in die Ferien auf den Malediven, wo die Hochzeit seines Bruders Mischa (30) gefeiert wird. In 14 Tagen startet in Monte Carlo die Vorbereitung auf die neue Saison, die am 30. Dezember im australischen Perth mit dem Hopman Cup an der Seite der ehemaligen Weltranglistenersten Angelique Kerber (Kiel) beginnt.

London, die WM mit einer überraschenden Besetzung ohne viele verletzte Topstars wie Novak Djokovic oder Andy Murray, hatte Zverev die Chance geboten, seine Jahresbilanz zu harmonisieren. 2017 war bis zur WM ein Jahr zwiespältiger Eindrücke. Fast immer herausragend im Alltag auf der Tour, mit zwei Masters-Triumphen, drei weiteren Pokalcoups, dem Vormarsch in der Weltrangliste. Aber auch ein Jahr, in dem bei den alles überstrahlenden vier Grand Slams der Durchbruch nicht gelang. Was auch keineswegs schlimm war für einen gerade dem Teenageralter entwachsenen Jungprofi, aber nicht zu Zverevs eigenen Ansprüchen passte.

Nur in Wimbledon schaffte er den Sprung in die zweite Turnierwoche, bei den French Open und den US Open verlor er Matches, die er nicht verlieren musste. In Melbourne lieferte er Spaniens Topstar Rafael Nadal einen heroischen Fünf-Satz-Kampf, konnte verlockende Siegmöglichkeiten allerdings nicht nutzen.

Das WM-Championat hätte sein Turnier, sein Moment sein können. Es gab keinen im Feld der acht Saisonbesten, vor dem Zverev sich hätte fürchten sollen oder müssen. Auch nicht vor Roger Federer, dem Freund und Idol. Gegen ihn hatte Zverev im zweiten Gruppenspiel alle Optionen zum Sieg, aber ein nach 4:0-Führung verlorener Tiebreak in Satz eins brachte das ganze Projekt WM in Turbulenzen. Gegen Sock, einen Mann, der sich in letzter Sekunde für die WM qualifiziert hatte und locker, lässig und entspannt aufspielte, stand Zverev unter massivem Druck, auch dem eigenen Erwartungsdruck. Am Ende scheiterte er unter dieser Last. Es zeigte sich, dass Zverev mental noch nicht immer für diese Spitzenspiele von der ersten bis zur letzten Minute bereit ist.

Und es zeigte sich auch, dass die Saisonplanung im Team Zverev sich allmählich den veränderten Realitäten anpassen muss. Zverev muss seine Einsätze besser dosieren, sich genügend Pausen nehmen, um das Jahr bis zur WM besser zu überstehen. In diesem Herbst spielte er viel zu viel, nahm – schon entkräftet – zu viele Negativerlebnisse nach London mit. Er spielte nur noch ein einziges ordentliches Turnier nach dem New Yorker Grand Slam, den ATP-Wettbewerb in Peking, bei dem er ins Halbfinale vorstieß. Sowohl gegen Federer wie auch gegen Sock wirkte Zverev in London im dritten Satz am Limit seines körperlichen Potenzials, kein Wunder bei inzwischen 77 Saisonmatches. „Ich habe schon meine Knochen gespürt“, sagte Zverev, „die vergangenen Wochen waren sehr hart.“

Zverev bleibt Anwärter auf einen Grand-Slam-Titel

Nichts nimmt all dies von einem Jahr, in dem Zverevs Auftritte immer wieder zum Träumen einluden. Zur begründeten Erwartung, dass hier der nächste deutsche Grand-Slam-Sieger heranwachsen kann. Zverev steht im Ranking direkt hinter den beiden Granden Nadal und Federer, er ist so etwas wie der geborene Thronfolger und Erbe. Federer zum Beispiel war mit 20 längst nicht so weit wie Zverev. Er musste, genau wie jetzt Zverev, erst noch in die Rolle des ganz großen Siegertypen hereinwachsen. Zverev hatte das auch, bereits vor der WM , thematisiert: „Es ist nicht leicht, dieses Profileben. Mit 20 Jahren, unter ständiger öffentlicher Beobachtung.“ Auch das erklärt dann vielleicht, warum man im dritten Satz eines WM-Spiels in diesem Alter noch die Nerven verlieren kann – und scheitert.

In der Pete-Sampras-Gruppe sicherte sich der Belgier David Goffin mit einem 6:4, 6:1-Erfolg über Dominic Thiem (Österreich) den zweiten Halbfinalplatz neben dem Bulgaren Grigor Dimitrow, der Gruppensieger wurde. Goffin trifft im Halbfinale (Sa., 15 Uhr) auf Federer, Dimitrow spielt um 21 Uhr gegen Zverev-Bezwinger Sock.