Montreal. Pauline Schäfer gewinnt zum Abschluss der Kunstturn-WM in Montreal überraschend die Goldmedaille

Als Pauline Schäfer, die riesige Medaille in Form eines Bagels um den Hals, direkt nach ihrem Triumph gefragt wurde, wie es für sie weitergehe, da fiel der 20-Jährigen nicht viel ein. Die deutsche Nationalhymne war im Olympiastadion von Montréal gerade erst verklungen, und die Gewissheit, etwas Großes geleistet zu haben, hatte sich bei der neuen Königin des Schwebebalkens noch nicht vertieft. „Es wird sich nichts ändern“, betonte die deutsche Kunstturnweltmeisterin. Training, Wettkämpfe und nebenbei die Schule, in der die Sportsoldatin das bislang versäumte Abitur nachholen will, sollen ihren Alltag bestimmen.

Im Verlauf des Abends konnte Schäfer einen ersten Eindruck davon bekommen, was sie in nächster Zeit auch noch in den sowieso schon vollgepackten Terminplan stopfen muss. Doch das Medienparkett ist nicht das ihre. Während die drei Jahre jüngere Ludwigsburgerin Tabea Alt, die als Bronzemedaillengewinnerin am ehemaligen Zittergerät den Erfolg des Deutschen Turner-Bundes (DTB) bei den Titelkämpfen in Kanada komplettierte, stets freundlich, ausführlich und selbstbewusst Auskunft gibt, wirkt Schäfer in der Öffentlichkeit zurückhaltend und um die richtigen Worte verlegen.

Auf dem Schwebebalken ist sie dagegen in ihrem Element. Dort, auf dem nur zehn Zentimeter schmalen Steg, bewegt sich die Begabte mit der Geschmeidigkeit einer Katze. Ihre hohe Flexibilität erlaubt der gebürtigen Saarländerin die schwierigsten Sprünge, macht es ihr möglich, den Oberkörper so weit zurückzubeugen, dass sie sich im Flug mit ihrem Fuß am Kopf kratzen kann. Dass sie nicht sieht, wo sie landet, macht ihr nichts aus. Dieses blinde Vertrauen in das eigene Gefühl hat der Bierbacherin ein Übungsteil ermöglicht, das vor ihr noch keine andere Athletin aufs Gerät gebracht hat: einen Seitwärtssalto mit halber Schraube, der unter ihrem Namen in den internationalen Wertungsvorschriften steht.

Erfunden hat die Deutsche ihn nicht, sie schaute sich das Element bei einem Trainingslager in Kanada ab, wo andere Athletinnen es vergeblich versuchten. Dabei ist sie kreativ, experimentiert mit Gabi Frehse, ihrer Trainerin, gerne an neuen Bewegungsvarianten. Seit fünf Jahren arbeiten die beiden gemeinsam. Damals wechselte die beim TV Pflugscheid-Hixberg groß gewordene Sportlerin an den Stützpunkt nach Chemnitz. Die Entscheidung, die Heimat zu verlassen, fiel ihr nicht leicht, doch es gab noch eine größere Schwierigkeit zu überwinden: Schäfer brachte eine Rückwärtsblockade mit, hatte Angst vor den Überschlägen, bei denen man erst einmal ins Leere springt.

2013 verpasste sie dadurch die Qualifikation für die Europameisterschaften. Vor ihrem eindrucksvollen Auftritt in Montréal gab es eine ähnliche Enttäuschung. Die knapp geschlagene Zweite der deutschen Meisterschaften hatte sich Hoffnung gemacht, in Kanada im Mehrkampf starten zu dürfen. Als die Nominierung sie nur für Boden und Balken vorsah, nahm sie diese Aufgabe jedoch laut Bundestrainerin Ulla Koch „hochkonzen­triert“ und „fokussiert“ an.

Die Sicherheit, gepaart mit exakter Ausführung, die sie bei ihren beiden Übungen in der Olympiastadt von 1976 an den Tag legte, beeindruckte und bescherte ihr das Gold – die zweite WM-Medaille nach Bronze in Glasgow vor zwei Jahren. Doch auch sie selbst kennt das Gefühl, auf dem harten Boden der Realität aufzuschlagen, wenn man nach einer Medaille greift. Zuletzt hatte sie es bei den Olympischen Spielen im vergangenen Jahr in Rio de Janeiro und bei der EM im April in Cluj-Napoca (Rumänien) gespürt. Dass sie so eindrucksvoll zurückkehren würde, damit hatte sie nicht gerechnet.