Bergen. Im Straßenrennen am Sonntag wäre ein Medaillengewinn für Deutschland eine Sensation. Der große Favorit ist Titelverteidiger Peter Sagan

Tony Martin gönnte sich nach dem geplatzten Medaillentraum im Zeitfahren ein paar entspannte Stunden mit Lebensgefährtin Nina und Töchterchen Mia. Am Freitag saß der 32 Jahre alte Ex-Weltmeister schon wieder zum Training auf dem Rad. „Im vergangenen Jahr hatten wir drei Siegkandidaten und waren chancenlos. Diesmal sind wir ohne echten Kapitän, vielleicht ist das ja auch ein Vorteil, weil die anderen Fahrer nicht so auf uns schauen“, sagte Martin vor dem Straßenrennen am Sonntag (10 Uhr, ab 15 Uhr live auf Eurosport) zum Abschluss der Rad-WM in Bergen.

Martin will mit seinen Teamkollegen aber auch ohne den erkrankten Kapitän John Degenkolb, der am Freitag für eingehende Untersuchungen an Herz und Lunge in ein Krankenhaus eingewiesen wurde, seine Chance suchen. Allerdings käme ein deutscher Medaillengewinn einer Sensation gleich. „Die Vorentscheidung fällt 50 bis 80 Kilometer vor dem Ziel. Da sollten wir mit ein, zwei Fahrern dabei sein. Wenn wir eine Top-Ten-Platzierung erreichen, wäre das schon ein Erfolg“, sagte der vierfache Zeitfahrweltmeister.

Für den Bund Deutscher Radfahrer (BDR) steht schon jetzt fest, dass die WM-Bilanz im Vergleich zum vergangenen Jahr bescheiden ausfällt. Bei der Hitzeschlacht in Doha hatte die deutsche Mannschaft zwei WM-Titel und drei Silbermedaillen gewonnen. Im Rennen der U-23-Männer am Freitag eroberte der Wedeler Lennard Kämna mit Silber immerhin die erste deutsche Medaille der Titelkämpfe in Norwegen. Die Bilanz noch weiter aufzupolieren, daran arbeiten die deutschen Männer, auch wenn ihnen kaum eine Chance eingeräumt wird. Während bei der WM vor einem Jahr die Sonne vom Himmel brannte, beeinflusst möglicherweise im kühlen und verregneten Bergen das Wetter auch das Straßenrennen. „Das spielt sicher eine Rolle. Man muss von Anfang an clever fahren, um Körner zu sparen. Denn auch die Distanz ist mit 276,5 Kilometern ja gewaltig“, sagte Nikias Arndt vom Team Sunweb. Vom Profil her erwartet das Peloton einen Kurs, der eher an einen Klassiker erinnert.

Der 25 Jahre alte Profi aus Buchholz in der Nordheide fiebert dem Rennen auch wegen der unglaublichen Begeisterung der norwegischen Radsportfans entgegen, nachdem am Dienstag beim Zeitfahren 40.000 Zuschauer die Pedaleure ins Ziel am Mount Floyen hinaufgetragen hatten. Dabei hatte Arndt im Juli bei der Tour de France seine bislang wohl bitterste Niederlage kassiert, als ihn auf der 19. Etappe der Norweger Edvald Boasson Hagen noch auf den letzten Kilometern abfing und auf Rang zwei verwies. „Nein, da habe ich keine Rechnung offen“, sagte Arndt, der bei seiner ersten Tour-de-France-Teilnahme einen Etappensieg nur um fünf Sekunden verpasste und daraus seine Lehren gezogen hat: „Ich bin eher stärker aus der Sache hervorgegangen.“

Van Avermaet und Matthews könnten Sagan stoppen

Der große Favorit auf den Sieg ist Peter Sagan, der bei der Tour de France nach der dritten Etappe nach einem aus Sicht der Jury unfairen Ellenbogencheck gegen seinen Konkurrenten Mark Cavendish disqualifiziert worden war. Der 27 Jahre alte Slowake kann das Kunststück fertigbringen, nach 2015 und 2016 als erster Radsportler zum dritten Mal in Folge Straßenrad-Weltmeister zu werden. „Das wäre etwas ganz Besonderes“, sagte Sagan, der demnächst Vater wird.

Der Profi vom deutschen Team Bora-hansgrohe soll zuletzt erkältet gewesen sein. Tony Martin aber lässt das nur müde lächeln. „Der kann auch mit Fieber Weltmeister werden“, sagte Martin, während Bundestrainer Andreas Klier eine so klare wie knappe Antwort auf die Frage gab, wie der Slowake im Rennen taktisch zu entschärfen sei: „Gar nicht.“ Vor zwei Wochen setzte Sagan ein weiteres Ausrufezeichen, als er beim WorldTour-Rennen im kanadischen Quebec seinen 100. Profisieg landete. Dem belgischen Olympiasieger Greg van Avermaet oder Sprintkönig Michael Matthews aus Australien werden die besten Chancen eingeräumt, den Siegeszug des Slowaken zu stoppen.