Hamburg. Der Geschäftsführer äußert sich zur Randale im Nordderby in Kiel. DFB und DFL nehmen Ermittlungen auf

Eigentlich hätte An­dreas Rettig am Mittwochvormittag viel lieber über sportliche Themen gesprochen. Über den souveränen 1:0-Sieg beim Tabellenführer Holstein Kiel, über das schön herausgespielte Tor von Johannes Flum, über die Reaktion der Mannschaft auf das blamable 0:4 gegen Ingolstadt am vergangenen Sonnabend. Doch all das war auch am Tag danach irgendwie ein Randthema.

Überlagert wurde das Sportliche von den schweren Ausschreitungen während der Warmmachphase, als rund 50 vermummte Kieler Anhänger den Platz gestürmt, eine Blockfahne der Hamburger Fans entrissen und sich anschließend Handgemenge mit Spielern und Trainern der Kiezkicker geliefert hatten. Vor allem Torwarttrainer Mathias Hain, der einen der Chaoten mit einer Grätsche zu Boden gebracht hatte, Co-Trainer Patrick Glöckner sowie die Spieler Jan-Philipp Kalla und Sami Allagui stellten sich den Chaoten in den Weg. „Es gibt einen Spieler, von dem uns bekannt ist, dass er angegriffen wurde. Wir werden uns im Rahmen des Ermittlungsverfahrens genauer dazu äußern“, sagte Rettig, der die Szenerie geschockt vom Spielfeldrand beobachtet hatte und dem auch am Mittwoch noch anzumerken war, wie verstörend die Vorkommnisse waren. „Auf der einen Seite haben sie großartige Zivilcourage gezeigt, sich jemandem entgegenzustellen, der vermummt mit einer Fackel in der Hand über den Platz läuft. Das verdient erst einmal Lob und Anerkennung. Dennoch stellt sich auch die Frage nach dem Selbstschutz, wenn noch ein Spiel auf dem Programm steht“, hinterfragte Rettig die Reaktion der Beteiligten.

Klar ist: Das Sicherheitskonzept von Holstein Kiel hat in Gänze versagt. Obwohl das Nordderby als Sicherheitsspiel klassifiziert wurde, war der Ordnungsdienst überfordert. Die Polizei griff viel zu spät ein, wenngleich am Ende sieben Chaoten verhaftet werden konnten. „Die Polizei hat einen guten Job gemacht. Wenn das nicht so gewesen wäre, wäre es vielleicht zu ganz anderen Szenen gekommen“, sagte Kiels Geschäftsführer Wolfgang Schwenke und ergänzte: „Wenn die Polizei eingreift, weckt es immer eine gewisse Aggression. Man wartet ab, wie viele Leute aufs Feld laufen. Die Polizei hat ­bewusst kühl und mit Augenmaß gehandelt.“

Da gehen die Meinungen derer, die das miterlebt haben, auseinander. Sicher ist, dass sich sowohl die Deutsche Fußball-Liga (DFL) als auch das Sportgericht des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) mit den skandalösen Vorkommnissen beschäftigen. Kiel droht eine empfindliche Strafe. „Die Leute haben bei uns im Stadion nichts zu suchen. Diejenigen, die wir identifizieren, werden lange Zeit nicht mehr ins Stadion dürfen. Dafür werde ich mich beim DFB und der DFL einsetzen“, kündigte Schwenke als Konsequenz an. In einer Stellungnahme auf der Internetseite schrieb Holstein, dass man davon ausgeht, dass es mehrere kleine Gruppen waren, die den Platzsturm begangen hatten. Ein Generalverdacht gegen Ultras wolle man nicht erheben.

Provozierten St.-Pauli-Fans im Vorfeld des Nordderbys?

Ob den an den Handgreiflichkeiten beteiligten St.-Pauli-Akteuren ein Nachspiel droht, ist noch nicht abzusehen. 2008 hatte Abwehrspieler Nico Herzig, damals im Trikot von Alemannia Aachen, einen Flitzer tätlich aufgehalten. Der Verband verzichtete auf eine Sperre. „Unsere Spieler und auch das Funktionsteam haben ausschließlich auf die Angriffe reagiert und sich einer großen Gefahr ausgesetzt“, betonte Rettig: „Das ist eine ganz schwierige Situation gewesen, deswegen kann man nur sagen: Gott sei Dank ist niemand zu Schaden gekommen.“

Am Mittwoch begann bei St. Pauli bereits die Aufarbeitung der Vorfälle. Sicherheitschef Sven Brux war in der schleswig-holsteinischen Hauptstadt mit vor Ort. Vor allem muss geklärt werden, ob es tatsächlich Fans des Kiezclubs waren, die am vergangenen Sonnabendmorgen Kieler Fans vor deren Stadion abgefangen, attackiert und einen Holstein-Banner gestohlen hatten. Die Ausschreitungen vor dem Nordderby waren eine Gegenreaktion der Kieler Fanszene. „Wir haben von den Mutmaßungen gehört, ich will mich da nicht aufs Glatteis begeben. Die Faktenlage ist nicht klar. Wir dürfen nicht das Verhalten legitimieren und rechtfertigen, egal was vorher war“, sagte Rettig.

Vielmehr hob der Geschäftsführer das Verhalten der 2300 mitgereisten Anhänger hervor, die nach den Attacken der Kieler Hooligans besonnen reagiert hatten. „Wenn man eine Horde von Vermummten auf den Platz stürmen sieht, die in Richtung des eigenen Blockes läuft, dann kann das natürlich auch mit einer Gegenreaktion enden. Die Fans haben richtig reagiert, sich nicht auf die Provokation einzulassen. Das hat auch zur Deeskalation beigetragen“, lobte Rettig.