Hamburg. Alarmsignal oder Ausrutscher? Beim 0:4 gegen Ingolstadt lieferte der Kiezclub eine erschreckende Leistung ab

Die Szenerie im Medienraum des Millerntorstadions hatte am späten Sonnabendvormittag etwas von einem Verhör. Ein gleißend heller Scheinwerfer strahlte direkt in das Gesicht von Olaf Janßen, der mit zusammengekniffenen Augen auf die Fragen der Journalisten wartete. „Können wir den wegdrehen oder zuklappen?“, fragte der Trainer des FC St. Pauli. Zugeklappt hätte der 50-Jährige am liebsten auch sofort das Kapitel „Heimdebakel gegen den FC Ingolstadt“.

Vor allem die Art und Weise, wie sich der Kiezclub beim 0:4 (0:4) gegen den FC Ingolstadt präsentierte, sorgte für Verwunderung. Über 90 Minuten, vor allem aber in der ersten Halbzeit, war es ein Festival der Unzulänglichkeiten, die zu den historisch schlechtesten 45 Minuten der Vereinsgesichte führten. Noch nie war St. Pauli in einem Heimspiel mit 0:4 in eine Halbzeitpause gegangen. Auswärts gelang dieses Kunststück 1975 in Wuppertal. Nur die Älteren werden sich erinnern.

Die 29.380 Fans quittierten es mit gellenden Pfiffen, Aufmunterung und Veralberung. Als Sami Allagui in Minute 60 einen harmlosen Ball in die Arme von Ingolstadts Keeper Örjan Nyland köpfte, brandete höhnischer Jubel auf den Rängen auf. Die Höchststrafe für einen Fußballer. „Man fühlt sich beschissen“, gab Janßen offen zu. „Ich habe meinen Frust und meine Enttäuschung in der Halbzeitpause herausgelassen. Wir haben haarsträubende Fehler gemacht“, gestand der Trainer ein. Geschäftsführer Andreas Rettig flüchtete sich nach der Partie in der Mixed-Zone in Galgenhumor. „Wenn es der Plan war, dass wir vor der Englischen Woche nicht viel Kraft lassen, dann ist er aufgegangen.“

Die Profis des FC St. Pauli zeigen sich selbstkritisch

In der Tat machte es St. Pauli dem bisher so enttäuschenden Bundesliga-Absteiger viel zu leicht. Sowohl in der Vorwärtsbewegung als auch bei der Arbeit gegen den Ball fehlte jegliche Struktur. Die Räume, die sich den fußballerisch klar besseren Gästen boten, waren wie ein Geschenk drei Monate vor Weihnachten. Allein das auf die Rotation – Janßen hatte mit Zander, Bouhaddouz und Sahin drei neue Spieler gebracht – zu schieben, wäre zu einfach. Es war ein Kollektivversagen in allen Mannschaftsteilen. Zaghaftes Zweikampfverhalten, Fehlpässe en masse, Flanken hinter das Tor. Über weite Strecken war ein deut­licher Klassenunterschied zu sehen.

Vor dem ersten Gegentor ging erst ein langer Ball von Marc Hornschuh daneben, beim Versuch, den ersten Fehler zu korrigieren spielte der Abwehrchef an der Strafraumgrenze Foul. Den anschließenden Freistoß streichelte Sonny Kittel über die kaum hochspringende Mauer der Kiezkicker. „Das war ein Katastrophenfehler von mir. Das Tor nehme ich auf meine Kappe“, gestand Hornschuh ebenso ein wie Kapitän Bernd Nehrig, der gleich bei zwei Gegentreffern ganz alt aussah. „Das war eines der schlechtesten Spiele, das ich je abgeliefert habe. Wir haben eine beschissene Partie abgeliefert, für die wir jetzt einmal zu Recht auf die Fresse kriegen“, sagte Nehrig, der zumindest in der zweiten Hälfte eine Minireaktion gesehen hat. „Wir wollten uns nicht 0:5, 0:6, 0:7 abschlachten lassen, sondern ein Stück weit unsere Ehre bewahren.“

Die eigentlichen Bewährungsproben für das Janßen-Team steigen jedoch am Dienstag im Nordderby bei Holstein Kiel und am Sonnabend zu Hause gegen den bisher so starken Aufstiegskandi­daten Fortuna Düsseldorf. Für St. Pauli wird es die erste Standortbestimmung in einer Saison, die rein von der Punkteausbeute durchaus positiv begonnen hatte. Zur ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass die Hamburger in keinem der bisherigen sechs Saisonspiele über 90 Minuten überzeugen konnten. Die Spielidee von Janßen sieht man bisher nur sporadisch in den Partien. Nach der Englischen Woche wird man sehen, in welche Richtung St. Pauli steuern wird. „Wir wissen, dass wir es können. Das ist jetzt kein schöner Moment. Man kann sich Gedanken machen, darf sich aber auch nicht verrückt machen. Wir müssen ehrlich zu uns selbst sein und das richtige Fazit ziehen“, forderte Nehrig und ergänzte: „Unser Ansporn ist es, gegen Kiel eine andere Seite zu zeigen.“

Das wird gegen das Überraschungsteam der Zweiten Liga auch nötig sein. Trainer und Mannschaft sind froh, bereits am Dienstag wieder die Chance zu bekommen, das Debakel gegen Ingolstadt korrigieren zu können. „Unsere Mannschaft weiß, auf wen sie trifft und was sie erwartet. Da musst du den Kopf oben halten und sagen: ,Auf ins Gefecht‘. Das hilft uns in der Vorbereitung“, sagte Janßen, wohlwissend, dass weitere Auftritte wie der gegen Ingolstadt am Sonnabend ein mediales und wohl auch vereinsinternes Verhör nach sich ziehen würden.