Die Oberligamannschaft des FC St. Pauli hat in Ruanda Entwicklungshilfe durch ihren Sport geleistet – und dabei selbst viel gelernt

Kinder! Überall Kinder. Sie lachen, toben, juchzen am Spielfeldrand. Sie laufen auch mal auf den Platz, vergessen alles Drumherum, schnattern, schreien, jagen Bällen hinterher, wirken unbeschwert, hier und jetzt in diesem Augenblick auf dem Sportplatz mitten in Kigali. „Es war nicht ganz einfach, sich da noch auf das Spiel zu konzentrieren“, erzählt Arne Dohren. „Auch das war eine neue Erfahrung.“

Neue Erfahrungen – wo fängt einer an zu erzählen, und wo hört er auf? Das ist alles ja noch gar nicht richtig sortiert im eigenen Kopf und der Seele. Dieses Erlebnis, eine Woche Handball, mitten in Afrika, die ganzen Eindrücke, die neuen Freundschaften. Seit gut einer Woche sind sie nun wieder zurück, die Handballer des FC St. Pauli, von ihrer Reise nach Ruanda, in die Hauptstadt Kigali. Und in ihren Köpfen schlagen die Erinnerungen noch Purzelbäume und werden es noch lange Zeit tun. „Dieses Erlebnis wird mit Sicherheit für immer unvergesslich bleiben“, sagt Benjamin Jacobs.

Mit 15 Spielern und Sack und Pack hatten sie sich Ende August aufgemacht. In unterschiedlichen Reisegruppen, einige kamen vorher schon an, urlaubten noch ein wenig, andere flogen später zurück. Über Brüssel und Entebbe in Uganda ging es in die Hauptstadt von Ruanda oder über Amsterdam und Nairobi, auch über die Türkei flogen einige dorthin. „Die relativ gute Erreichbarkeit von Kigali war einer der Gründe, warum wir uns für Ruanda entschieden haben“, sagt Jacobs. Einem anderen Handballclub in Malawi mussten sie deshalb absagen. „Das war kein leichtes Gespräch für mich“, sagt der 36-Jährige.

Aber was, bitte schön, wollten die viertklassigen Oberliga-Handballer in Ruanda? Lernen und Lehren wollten sie. Und Teamkapitän Dohren ist „schuld“. Gemeinsam mit Mitspieler Benjamin Léger nahm der 33-Jährige vor vier Jahren in Südafrika an einem Handballprojekt teil und war begeistert: „Die Idee, etwas Ähnliches zu organisieren, war geboren“, erzählt der Berufsschullehrer. Vor zehn Monaten haben sie dann bei ihrem Stamm-Italiener unweit der Sporthalle Budapester Straße Nägel mit Köpfen gemacht. Die Saisonabschlussfahrt sollte zum Handballprojekt in Afrika werden. „Wir haben geschaut, wo es schon Strukturen gibt und wo man auch in kurzer Zeit etwas bewirken kann“, erzählt Dohren. Nach einigem Hin und Her und mithilfe des Deutschen Handball-Bundes sowie der IHF und des DOSB fanden sie schließlich den Gorillas Handball Club aus Kigali.

Kigali. 1,16 Millionen Einwohner, gegründet 1906 von Deutschen als Residenz in Deutsch-Ostafrika. Ein modernes Stadtzentrum, teuer für Ausländer, aber auch sehr arme Gegenden, wo es offenbar Probleme mit der Frischwasserversorgung gibt. Die Stadt wurde 2015 zur „saubersten Hauptstadt in Afrika“ gewählt. „Ruanda gilt als sicher und stabil, es hat eine ordentliche Infrastruktur“, sagt Jacobs. „Das eignet sich ganz gut als Afrika für Einsteiger. Wir haben uns nie in irgendeiner Form unbehaglich gefühlt.“ Natürlich entspricht die politische Lage nicht mitteleuropäischen Idealen in Bezug auf Pressefreiheit, Korruption, Rechten der Opposition. Das ist aber längst auch in Europa nicht mehr überall der Fall. „Zwei Wochen vor unserer Ankunft waren dort Wahlen“, sagt Dohren, „es ist alles friedlich geblieben.“ Präsident Paul Kagama wurde mit großer Mehrheit wiedergewählt. Nach Berichten unabhängiger Wahlbeobachter lief alles korrekt ab. Der Staatschef gilt als beliebt, weil er dem Land Stabilität und ein hohes Wirtschaftswachstum bescherte.

„Wir waren positiv überrascht über den guten Organisationsgrad vor Ort, über die Strukturen und auch über das Handballniveau“, erzählt Jacobs. Aber klar dauert es im Restaurant mal länger, der Bus fährt, wenn er voll ist, und in einem Spiel fiel auch mal das Flutlicht für zehn Minuten aus.“ Restaurants gibt es reichlich. Italiener, Chinesen, auch Burger, sogar ein deutsches Restaurant – „aber da waren wir nicht“. Alles da. Wenn man Geld hat. „Es gab viel Avocado, sehr viel Obst und eigentlich immer Fleisch, Hühnchen und anderes“, sagt Dohren, „nur die Leber zum Frühstück haben wir abbestellt.“

Ihr Hotel aber war völlig in Ordnung. Fließend Wasser auf dem Zimmer, WC. Sicher etwas eng, aber sie konnten auch nicht zu viel ausgeben. Ohne die Hilfe ihrer drei Sponsoren Hummel, MEYLE Autozubehör, der in Kigali Kunden hat, und ForestFinance sowie einem Crowdfunding und einem Benefizspiel gegen den HSV hätte es sowieso nicht funktioniert. „Mit einer reinen Studententruppe wäre das sicher unmöglich“, sagt Jacobs, der als Redakteur bei der „Handballwoche“ arbeitet. „Wir sind aber fast alle älter und berufstätig.“

So haben sie dann ihr pickepacke-volles Programm in Kigali absolviert. Der Gorillas Handball Club wurde 2012 gegründet und ist im Grunde eine Art Jugend-Akademie. Ein reiner Ausbildungsbetrieb, der talentierten Jugendlichen die Möglichkeit gibt, sich weiter zu entwickeln und auch Halt zu finden. „Der Sport hat einen sehr hohen Stellenwert, talentierte Sportler haben die Möglichkeit, ein Schulstipendium zu erhalten“, sagt Dohren. „das kann der Einstieg in eine viel bessere Ausbildung sein als normalerweise möglich.“

Handball hat als Sport eine gewisse Tradition in Kigali

Der Besuch der Deutschen hat dem Club notwendige Aufmerksamkeit beschert. Die größte Tageszeitung hat berichtet, die Hamburger sind im Fernsehen aufgetreten, auf einer Pressekonferenz standen sie Rede und Antwort. Sie hielten ein Coaching-Seminar ab, besuchten eine Schule, gaben Einblicke in das Handballspiel und sie nahmen an einem Turnier teil, der „Umurage Handball Trophy“. Gleich morgens um neun, einen Tag nach ihrer Ankunft mussten sie gegen den Police HBC antreten, die Mannschaft der Polizei, den Vizemeister des Landes. Es gab eine 34:37-Niederlage. Gegen das Team Nyakabanda allerdings haben die St. Paulianer klar 37:16 gewonnen, verloren aber ein drittes Spiel gegen eine „Allstar-Auswahl“ der Gorillas mit 27:28.

„Die hatten Spieler dabei, die es richtig konnten. Vor allem athletisch und vom Tempo her“, lobt Arne Dohren. Allerdings: So ganz im Vollbesitz ihrer Kräfte waren die Hamburger bei den Spielen längst nicht mehr. Also erst einmal der Platz: im Freien natürlich. Eine Betonfläche in einem Wohngebiet. Häuser und Hütten auf dem Hügel gegenüber. Da packt sich kein Hamburger zum Fallwurf hin. Stattdessen spielt die Kopfbremse mit. Dazu ständiges Gewusel drum herum. Andere Welt eben. „Das war schon ein Topplatz, da war auch ein Volleyballcourt, ein Fußballfeld. In den Schulen waren die Plätze aus Sand-Grand noch viel einfacher“, erzählt Jacobs. „Bei uns in der Halle hätten wir gewonnen.“ Vielleicht.

Aber darum ging es ja auch nicht. „Wir sehen uns nicht als Entwicklungshelfer, sondern als Partner“, sagt Initiator Arne Dohren. Zahlreiche Ausrüstungsgegenstände wie Bälle, Ballnetze, Trikots, Schuhe, mobile Tore haben sie mit Sponsorenhilfe bereits jetzt nach Kigali verfrachtet, alles nach Absprache mit dem Gorillas Handball Club und dessen Jugend-Koordinator Anaclet Bagirishya. Mit der Rückreise jetzt soll das Projekt auch noch lange nicht beendet sein. Die St.-Pauli-Jungs können sich regelmäßige Webseminare vorstellen, Coachingkurse und Ähnliches. Vielleicht reisen sie auch noch einmal dorthin, dann auch mit einem Frauenteam. Nur der Gegenbesuch, der ist eher unwahrscheinlich. Weniger aus finanziellen Gründen. Aber wahrscheinlich erhalten die Afrikaner kein Visum, deutete die deutsche Botschaft an. So sind nun mal die Zeiten.

Natürlich hat es auch einige Spieler gesundheitlich erwischt, zwei lagen sogar in der Woche nach der Rückkehr in Hamburg noch darnieder. Magen-Darm, der europäische Körper ist ein Schlaffi, wenn es afrikanisch extrem wird. Nahrung, Wasser, 29 Grad, 1600 Meter Höhe, man weiß es nicht. Von allem ein bisschen oder alles zusammen. Eine Melange. „Es war sehr anstrengend“, gibt Rückraumspieler Jacobs zu.

Betroffenheit beim Besuch der Gedenkstätte des Genozids

Auch emotional. Ruanda, das erinnert zwangsläufig an den Völkermord von 1994, als Angehörige der Hutu geschätzt etwa 800.000 Tutsi umbrachten. Die Erinnerung an die Gräueltaten wird in zahlreichen Gedenkstätten am Leben gehalten. Das zentrale Museum dieser Art, das Kigali Genocide Memorial Centre, wurde 2004 in der ruandischen Hauptstadt eröffnet. Die Gemeinschaftsgräber dieser Einrichtung beherbergen die Überreste von circa 250.000 Menschen. „Wir wollten das besuchen, und es war sehr beklemmend und bewegend“, sagt Jacobs. Fotos von misshandelten Menschen, abgetrennten Körperteilen, Leichenbergen, Biografien von Kleinkindern und wie sie zu Tode kamen („an die Wand geschmettert“). „Die Parallelen zu den Gräueltaten der Nazis waren wirklich erschreckend“, sagt Benjamin Jacobs. Auch deshalb haben die Hamburger bei ihren Trainingsklamotten und T-Shirts auf ein typisches St.-Pauli-Markenzeichen verzichtet: „Wir haben nichts mit dem Totenkopf mitgenommen. „Das wäre nicht zu erklären gewesen.“

Erst der abschließende Ausflug nach fünf Tagen Handball in Kigali für anderthalb Tage an den Lake Kivu brachte dem Team schließlich etwas Ruhe. Endlich mal allein, ein Bier auf der Terrasse, wandern, schnacken, kein Programm, niemand anderes dabei. „Da konnten wir beginnen, die Eindrücke etwas sacken zu lassen“, sagt Arne Dohren. Fertig aber sind sie damit noch lange nicht.