Hamburg. Jürgen Kyas, Präsident des Deutschen Boxsport-Verbands, zieht sein Fazit der Amateur-WM, die am Sonnabend in Alsterdorf endet

An diesem Sonnabend endet mit den Finalkämpfen in zehn Gewichtsklassen (Start 18 Uhr) die Amateurbox-WM in der Sporthalle Hamburg. Im Abendblatt-Gespräch zieht Jürgen Kyas (71), seit 2009 Präsident des Deutschen Boxsport-Verbands (DBV), ein Fazit der dritten Welttitelkämpfe in Deutschland nach München 1982 und Berlin 1995.

Herr Kyas, der DBV hatte als sportliches Ziel für die WM bis zu drei Medaillen ausgegeben. Nun hatte es nur Weltergewichtler Abass Baraou ins Halbfinale geschafft, wo er ausschied. Ist das für eine Heim-WM ausreichend?

Jürgen Kyas: Natürlich können wir nicht ganz zufrieden sein. Angesichts von sechs Viertelfinalteilnehmern hatte ich schon gehofft, dass es der eine oder andere mehr zur Medaille schafft. Unsere Erwartungshaltung war höher, aber ich muss dennoch betonen, dass wir ein sehr junges Team ins Feuer geschickt haben, und ich denke, dass die Jungs sich gut verkauft haben.

Wenn die Erwartungshaltung dennoch höher war, wer hat Sie dann enttäuscht?

Enttäuscht hat mich nur unser Fliegengewichtler Hamza Touba. Er stagniert seit zwei Jahren in seiner Leistung, und ich kann nicht erkennen, dass er noch verstecktes Potenzial hat. Wir werden das analysieren und unsere Schlüsse daraus ziehen.

Einer wäre vielleicht, dass Leistungssport und Beruf noch besser zu vereinbaren sein müssten. Touba hat sich nach den Olympischen Spielen in Rio auf seine Ausbildung konzentriert, weil er, anders als viele seiner Gegner aus den Topnationen, vom Boxen nicht leben kann.

Das ist ein Problem, mit dem der gesamte deutsche Leistungssport zu kämpfen hat. Diese Aufgabe müssen wir Funktionäre in den kommenden Jahren lösen. Wir können finanziell mit Nationen wie Usbekistan, wo Weltmeister oder Olympiasieger sechsstellige Prämien bekommen, nicht mithalten. Unsere Medaillengewinner bekommen eine Prämie von der Sporthilfe, von der sie nicht leben können. Dennoch haben es unsere anderen Boxer geschafft, bessere Leistungen abzuliefern, daran kann es also bei Hamza nicht allein gelegen haben.

Auch von Artem Harutyunyan war als Lokalmatador und WM-Botschafter mehr erwartet worden als das Viertelfinale. Wie hart hat Sie sein Aus getroffen?

Wenn das Zugpferd so früh ausscheidet, ist das nie schön. Dennoch kann ich Artem nichts vorwerfen. Mit der Leistung aus seinem ersten Kampf hätte er eine Medaille holen können, aber er hat gegen den Usbeken verloren, der einfach besser war. Das muss man anerkennen. Und eins möchte ich deutlich sagen: Ich war froh, dass es keinen Heimvorteil gab wie bei früheren Turnieren. Die Urteile, die noch in Rio ein riesiges Streitthema waren, waren alle korrekt, es gab keinen Skandal. Das ist eine gute Entwicklung, für die man den Weltverband loben muss.

Auch wenn das sportliche WM-Niveau in nacholympischen Jahren grundsätzlich nicht ganz so hoch ist wie in vorolympischen, wurde hochklassiger Sport gezeigt. Besonders Usbekistan, Kasachstan und Kuba stachen mit ihren Athleten heraus. Wie schließt man die Lücke zu diesen Nationen, um 2020 in Tokio mehr als eine Bronzemedaille zu gewinnen?

Indem wir weiter das Konzept verfolgen, das wir vor einigen Jahren auf den Weg gebracht haben. Wir haben starken Nachwuchs, der hier in Hamburg zum großen Teil erste WM-Erfahrung gesammelt hat. Das wird die Jungs weiterbringen. Sie müssen einfach lernen, auf diesem Niveau mitzuhalten. Usbekistan hat es mit einer ähnlichen Fokussierung vorgemacht, wie man kontinuierlich den Weg in die Weltspitze gehen kann. Ich habe berechtigten Anlass, hoffnungsfroh in Richtung Tokio 2020 zu blicken. Aber ich bin auch realistisch genug, dass es keine Nationen mehr gibt, gegen die man einfache Siege schafft. Der Sport hat sich weltweit enorm weiterentwickelt.

Vor einem halben Jahr waren Sie überzeugt davon, dass die Hamburger Fans Sie nicht hängen lassen würden. Nun war die Halle an den bislang sieben Wettkampftagen nur am Freitag zu mehr als einem Drittel gefüllt. Erzeugt das die Signalwirkung, die Sie sich für den Boxsport erhofft hatten?

Wir hätten mehr Zuschauer gebraucht, um unseren Sport populärer zu machen. Ich sehe es allerdings nicht ganz so negativ. Es gab einige Weltmeisterschaften, wo wir in den Vorrundenkämpfen unter uns waren. Das war hier deutlich besser, die Stimmung war sehr gut. Und die Unterstützung der Medien war auch gut. Wir haben Resonanz bekommen, wenn auch nicht so viel wie erhofft.

Hätten Sie nicht früher, mehr und auffälliger werben müssen für die WM?

Hinterher ist man üblicherweise immer schlauer. Unter den Eindrücken dieser Woche würde ich sagen, dass wir noch mehr hätten machen können.

War der DBV zu bequem, weil die Stadt Hamburg alle finanziellen Risiken durch den 4,5-Millionen-Etat abgesichert hat?

Nein, das weise ich zurück. Alle Mitarbeiter und ehrenamtlichen Helfer haben sich unglaublich eingebracht, dafür habe ich mich von Herzen zu bedanken. Aber es war auch für uns ein Lernprozess. Die Anforderungen an einen WM-Ausrichter haben sich seit 1995, als wir zuletzt in Berlin Gastgeber waren, enorm verändert. Rückblickend gibt es also einige Dinge, die wir anders machen würden. Dazu gehört verstärkte Öffentlichkeitsarbeit.

Können Sie verstehen, dass andere Sportveranstalter in Hamburg neidisch auf die finanzielle Hilfe sind, die der DBV von der Stadt bekommen hat?

Ich habe weder Neid noch Missgunst wahrgenommen, deshalb kann ich dazu gar nichts sagen. Was ich sagen kann: Ich bin unendlich dankbar dafür, dass die Stadt ihre Zusagen, die sie während der Bewerbungsphase um die Olympischen Spiele 2024 gemacht hat, eingehalten hat. Das war keinesfalls selbstverständlich. Hamburg hat sich das Ziel gesetzt, weltweit als Sportstadt wahrgenommen zu werden. Aus meiner Sicht ist dieser Titel absolut verdient. Und wir haben von unseren internationalen Gästen in großer Zahl entsprechende Rückmeldungen bekommen. Nicht wenige haben gesagt, dass es organisatorisch und logistisch die beste WM war, die sie je erlebt haben.

Darauf hatte ja auch der Weltverband Aiba gesetzt, dass in Deutschland eine skandalfreie und bestens organisierte WM möglich sein könnte. Letztlich hat der Streit um die Suspendierung des Präsidenten Ching-kuo Wu, dem große Teile des Exekutivkomitees vorwerfen, die Aiba finanziell ruiniert zu haben, aber den Boxsport erneut in ein schlechtes Licht gerückt. Wie sehr hat das die WM beeinflusst?

Mich hat es unendlich gestört, dass Nebenkriegsschauplätze eröffnet wurden, die der Reputation des Boxsports geschadet haben. Ich verstehe diese Leute nicht, die während einer WM persönliche Interessen dem Sport voranstellen. Das wird den vielen Helfern und vor allem den Sportlern, die im Mittelpunkt stehen sollen, nicht gerecht. Deshalb ist das absolut enttäuschend für mich. Die Konsequenzen daraus werden wir spätestens auf der Generalversammlung im November ziehen.

Der Hamburger Verband ist wegen des Missbrauchsverdachts gegen Sportdirektor Christian Morales seit Ende 2016 in zwei Lager gespalten und gelähmt. Hätten Sie sich lokal mehr Unterstützung gewünscht?

Es ist schlichtweg enttäuschend, dass aus dem Hamburger Verband so wenig Hilfe kam. Bis auf wenige Ausnahmen hat man uns im Stich gelassen. Wer eine WM in der eigenen Stadt dafür missbraucht, um interne Machtkämpfe öffentlich zu führen, kann nicht auf mein Verständnis hoffen.

Sie spielen darauf an, dass Teile des Vorstands während der WM per offenen Brief ein Hausverbot für Morales forderten. Warum haben Sie ein solches nicht ausgesprochen, obwohl Sie dem Verband auch empfohlen hatten, ihn als Sportdirektor zu suspendieren, bis die Vorwürfe geklärt sind?

Weil es dazu keine rechtliche Handhabe gibt. Herr Morales hatte keine Akkreditierung für die WM, er hatte kein Amt. Aber als Zuschauer dabei zu sein kann ich ihm nicht verwehren, wenn er sich ordentlich benimmt, und das hat er getan. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, und solange seine Schuld nicht bewiesen ist, gilt er als unschuldig. Ich finde es bedenklich, dass immer wieder aus derselben Ecke bewusst Störfeuer initiiert werden, von Personen, die im Gegenzug stets fragen, was die WM ihnen bringt. Ich kann jetzt schon sagen, dass wir das Geschehen nach WM-Ende aufarbeiten werden und der Hamburger Verband einen immens hohen Schaden nehmen wird. Für das Thema Bundesstützpunkt beispielsweise kann Hamburg nach den vergangenen Monaten keine Unterstützung mehr erwarten.

Eine WM in Hamburg wird es also so schnell nicht wieder geben. Wann ist Deutschland bereit für die nächste Bewerbung, und was muss dann besser gemacht werden?

Grundsätzlich ist es für den DBV wichtig, internationale Großereignisse auszurichten. Allerdings muss die finanzielle Absicherung da sein. Ich kann sagen, dass es unter meiner Führung keine WM mehr in Deutschland geben wird. Aber allzu lang werde ich ja nicht mehr da sein. Wenn man mich im Herbst wiederwählt, ist das meine letzte Amtsperiode. Besser machen können wir vieles, von der Öffentlichkeitsarbeit über technische Vorbereitung bis hin zu mehr Effizienz und mehr sportlichen Erfolg. Trotzdem gebe ich mich zufrieden mit dem, was wir erreicht haben.