Hamburg. Amateurbox-WM in Hamburg verliert ihr Zugpferd – nur ein Deutscher im Halbfinale

Tränen standen ihm in den Augen, die Stimme stockte, immer wieder wischte sich Michael Timm mit einem Handtuch über sein Gesicht. „Ich habe ja schon viel erlebt, aber so etwas noch nicht. Das tut unserem Sport nicht gut“, sagte der Bundestrainer, nachdem die Amateurbox-WM in der Sporthalle Hamburg am Dienstagnachmittag ihr wichtigstes Zugpferd verloren hatte. Mit 2:3 Richterstimmen musste sich Lokalmatador Artem Harutyunyan, Bronzemedaillengewinner in der Klasse bis 64 Kilogramm bei den Olympischen Spielen von Rio 2016, dem Usbeken Ikboljon Koldarow im Viertelfinale geschlagen geben.

Der Traum vom Gold vor heimischem Publikum war zerplatzt, und für Timm, Harutyunyan und Heimtrainer Artur Grigorian war die Schuldfrage schnell geklärt. „Ich werde das Urteil nicht kommentieren, denn solch schlimme Worte gehören nicht in die Zeitung“, sagte Grigorian. Timm fragte sich, „was die Punktrichter gesehen haben wollen“. Und Harutyunyan war der Meinung, „dass die ganze Halle gedacht hat, dass ich gewonnen habe“. Man muss diese Gefühlsausbrüche angesichts der Bedeutung des gebürtigen Armeniers für die Heim-Titelkämpfe verstehen, und nach zwei Punktabzügen für den ungestümen, erst 20 Jahre alten Gegner wegen Kopf- und Schulterstoßens war ein knappes Urteil zu erwarten gewesen.

Klitschko-Manager Bernd Bönte fand das Urteil gerecht

Sportlich jedoch war Koldarow in allen drei Durchgängen der bessere Mann, und da er Harutyunyan in Runde zwei mit einem rechten Kopfhaken sogar zu Boden geschickt hatte, war das Urteil mitnichten ein Skandal. „Der Sieg für den Usbeken war verdient“, sagte Klitschko-Manager Bernd Bönte, der als neutraler Beobachter unter den rund 1000 Besuchern weilte. Tatsächlich hatte es der 27-Jährige vom TH Eilbeck versäumt, im Infight die nötigen Treffer zu setzen. Um den aus der Distanz überlegenen Asienmeister unter Druck zu setzen, war er immer wieder in Doppeldeckung vorwärts marschiert, konnte den filigranen Kontern des flinken Usbeken aber zu wenig entgegensetzen. Ringrichter James Beckles (Trinidad und Tobago) ahndete zu Recht die unsauberen Aktionen Koldarows, doch dass selbst zwei Punktabzüge nicht ausreichten, um den Kampf zu gewinnen, musste sich Harutyunyan selbst zuschreiben.

Selbstkritik jedoch war wenig zu hören nach dem bitteren Aus, stattdessen zeigte sich der Boxer merkwürdig verklärt. Seinem Gegner fehle es an sportlicher Erfahrung, sagte er, „er war sehr unsauber, doch das Wichtigste ist, dass man fair bleibt. Ich freue mich über meinen tollen, sauberen Kampf.“ Enttäuscht sei er nicht. „Es war wundervoll, hier vor meinen Fans zu boxen.“ Man werde den Kampf analysieren und danach die nächsten Schritte überdenken. Ein Wechsel ins Profilager könnte eine Option werden, Olympia 2020 in Tokio bleibt ein Ziel.

Zunächst jedoch muss die Heim-WM aus nationaler Sicht zu einem versöhnlichen Ende gebracht werden. Nachdem Omar Salah (Münster/bis 49 kg) gegen Joahnys Argilagos (Kuba), Omar El Hag (Berlin/bis 56 kg) gegen den Kasachen Kairat Jeralijew, Murat Yildirim (Berlin/bis 60 kg) gegen Lazaro Alvarez Estrada (Kuba) und der in Hamburg aufgewachsene Ibrahim Bazuev (Köln/bis 81 kg) gegen Julio La Cruz (Kuba) ebenfalls ausschieden, ist Abass Baraou (Oberhausen/bis 69 kg) die letzte verbliebene Hoffnung. Der Europameister bezwang in einem mitreißenden Kampf Tuvshinbat Byamba (Mongolei) mit 5:0 und hat, weil es kein Duell um Platz drei gibt, schon vor seinem Halbfinale am Freitag gegen den Kubaner Roniel Iglesias eine Medaille sicher.