London. Der Speerwerfer bezwingt auch seinen Teamkollegen, Olympiasieger Thomas Röhler, und holt seinen ersten großen Titel

Diesen letzten Wurf wird Johannes Vetter sicher niemals vergessen. Wann wirft ein Kerl wie er schon mal den Speer mit Tränen in den Augen? Zum Glück waren es Freudentränen. „Auf meinen Schultern lag so ein immenser Druck“, erklärte der neue Weltmeister später seine Gefühlswelt. Weil er der letzte Werfer im Feld war, hatte er das erste WM-Gold für das deutsche Team bei der Leichtathletik-WM mit seinen 89,89 Metern aus dem ersten Versuch bereits in der Tasche. Erleichterung pur hatte die Emotionen ausgelöst, auch wenn der erhoffte Dreifachschlag ausblieb. Olympiasieger Thomas Röhler (Jena/88,26) landete auf Rang vier, Andreas Hofmann (Mannheim/83,98) wurde Achter.

Gefühle müssen bei Johannes Vetter gleich raus, die positiven wie die negativen. „Die in Dresden werden sich jetzt gewaltig in den Arsch beißen, und das sollen sie auch ruhig tun“, sagte der 24-Jährige. Vor drei Jahren hatte das 100-Kilo-Kraftpaket seine Geburtsstadt verlassen. Vetter fühlte sich dort nicht genügend gefördert und spürte auch nicht das Vertrauen, dass aus ihm ein richtig guter Speerwerfer werden könnte, schon gar nicht der beste der Welt. Es gab jedoch jemanden, der ihm dieses Gefühl vermittelte: Boris Obergföll. „Er war der Erste, der mein Potenzial erkannt hat. Dazu ist er ein so ruhiger Typ, sehr fokussiert. Das passt. Wir haben uns einfach gefunden.“

Der Bundestrainer, der unter seinem Geburtsnamen Boris Henry 1995 und 2003 WM-Dritter wurde, war auch der Erste, den er nach seinem Gewinn der Goldmedaille umarmte. „Ich bin stolz wie Bolle auf das, was ich die letzten drei Jahre mit ihm auf die Beine gestellt habe“, sagte Vetter. Er hat seine Bestweite um 15 Meter verbessert, wurde im vergangenen Jahr schon Olympiavierter in Rio. „Und ich bin glücklich, welche Unterstützung ich in Offenburg bekomme.“ Er hat seinen Wechsel aus Dresden ins Badische, 620 Kilometer Richtung Südwesten, nicht bereut. Vetter kündigte seinen Job bei der sächsischen Landespolizei, fand einen neuen bei der Sportförderkompanie der Bundeswehr. „Ich war bereit, ganz neue Wege zu gehen.“ Vor allem fand er in Offenburg neue Freunde. Eine große Rolle spielt Christina Obergföll, die Frau des Bundestrainers, Speerwurf-Weltmeisterin von 2013.

Anfangs war sie seine Trainingspartnerin, seit dem Karriereende 2016 hilft sie Vetter auf anderem Wege. „Ich habe viel von ihrer Erfahrung und von ihrem Auftreten gelernt. Jetzt ist Christina meine mentale Stütze.“ Sie habe genau gewusst, wie hoch der Erwartungsdruck gewesen sei, nachdem er in diesem Jahr mit 94,44 Metern einen deutschen Rekord aufgestellt und auch in der Qualifikation mit 91,20 Metern den weitesten Wurf gelandet hatte. „Da war ja jedem klar, wer hier Weltmeister werden muss“, sagte er. Christina Obergföll habe ihm geschrieben: „Hol dir das Gold. Du hast es verdient.“ Und er hat dem Druck standgehalten, weiß aber: „Es bin nicht nur ich, der hier Gold gewonnen hat.“

Ganz offensichtlich genießt der immer so forsch auftretende junge Mann das positive Gruppengefühl, auch jenes unter den deutschen Speerwerfern insgesamt. „Es tut mir leid, dass Thomas Vierter geworden ist. Ich hätte gern mit ihm auf dem Podium gestanden heute“, sagte er, „egal, wer oben gestanden hätte“. Für ihn war es die erste internationale Medaille. Für Röhler war es das zweite Mal nach der WM 2015 in Peking, dass er als Vierter knapp an einer Medaille vorbeiwarf. Diesmal fehlten ihm nur sechs Zentimeter. „So ist das im Sport“, sagte er, „gewinnen und Platz vier liegen oft nah zusammen.“

Möglich, dass der gewachsene Konkurrenzkampf im deutschen Team das bisher so freundschaftliche Verhältnis verändert. Man muss nur auf die Zwischentöne hören. Weltmeister und Olympiasieger aus Deutschland, was sagt das? „Wir verstehen uns gut. Und wir haben das Zeug dazu, die Speerwurf-Welt über die nächsten Jahre zu begeistern“, antwortete Vetter. „Olympiasieger ist noch mal eine andere Hausnummer als Weltmeister“, stellte dagegen der 25 Jahre alte Röhler fest, beeilte sich aber hinzuzufügen: „Es freut mich sehr für Jojo, dass er die Leistungen heute bestätigen konnte, die er in den letzten Wochen gezeigt hat.“ Vetter werde wohl über Jahre hinweg „mein Lieblingskollege und -gegner bleiben“.

Hofmann möchte bei der EM 2018 die Stars besiegen

Auch Hofmann freute sich für die Kollegen, blickte jedoch zugleich auf sich selbst. „Der Europameister nächstes Jahr wird vielleicht noch ein anderer“, sagte er zu der Konstellation, nun mit dem Olympiasieger und dem Weltmeister in der Mannschaft zu stehen. Wenigstens lachte er dabei. Und wenn die interne Konkurrenz zur Folge hat, dass immer ein Deutscher gewinnt, hätte Bundestrainer Boris Obergföll bestimmt nichts dagegen.