London. Im letzten Rennen seiner Karriere muss Jamaikas Sprintstar verletzt aufgeben

Seinen Abschied wird sich der bekannteste Athlet des Planeten ganz sicher anders vorgestellt haben. Von seinen Staffelkollegen gestützt verschwand Usain Bolt humpelnd in den Katakomben des Londoner Olympiastadions. Das Angebot zweier Helfer, seine letzte große Bühne im Rollstuhl zu verlassen, wies er zurück. Ohne ein Wort, ohne die erhoffte Goldmedaille im letzten Rennen seiner Karriere verließ er die 16. Leichtathletik-Weltmeisterschaften. Der 30-Jährige war am Sonnabendabend als Schlussläufer Jamaikas über viermal 100 Meter an dritter Stelle liegend mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Bahn gestürzt. Das Gold, das Bolt so unbedingt haben wollte, gewann überraschend Gastgeber Großbritannien vor den USA und Japan.

Der Superstar der Leichtathletik dagegen war nicht nur wegen seiner Verletzung am Boden zerstört. Seine Behandlung dauerte nicht allzu lange. Anders als zunächst von vielen Beobachtern angenommen, hatte er keinen Muskelfaserriss erlitten, wenigstens in dieser Hinsicht gab Teamarzt Kevin Jones Entwarnung: „Es war ein Krampf in seiner linken hinteren Oberschenkelmuskulatur.“ Möglicherweise eine Folge der Kühle, die beim letzten Rennen des Abends gegen 22 Uhr Ortszeit in der Arena herrschte. Die Läufer mussten minutenlang warten, ehe es endlich losging. Doch als der große Star den Stab übernahm, war schon klar, dass mehr als Bronze für Jamaika, für Usain Bolt, nicht drin war.

Erst Stunden später gab es mitten in der Nacht ein karges Statement Bolts. „Danke euch, meine Leute. Unendliche Liebe für meine Fans.“ Der achtmalige Olympiasieger und elfmalige Weltmeister brauchte nicht einmal zehn Worte, um sich auf Twitter und Facebook für immer als Sportler zu verabschieden. Auf den sozialen Kanälen, auf denen er seine vielen Millionen Anhänger seit fast zehn Jahren, seit seinen beiden Olympiasiegen in Peking über 100 und 200 Meter, ständig mit allen Informationen versorgt hatte. Der Mann, der sonst nicht nur wegen seiner großartigen Laufleistungen, sondern auch wegen seiner Qualitäten als Entertainer geliebt wurde, war jetzt einmal beinahe sprachlos. „Der Großteil seiner Schmerzen“, diagnostizierte Jamaikas Mannschaftsarzt Jones, „kommt wohl von der Enttäuschung über die Niederlage.“ Die vergangenen Wochen seien hart gewesen. „Wir hoffen das Beste für ihn.“

Vermutlich wird es eine Weile dauern, bis der Schmerz nachlässt, der seelische Schmerz. Bolt hatte mit sich gerungen, ob es richtig sei, sich angesichts seiner nachlassenden Dominanz in London noch einmal der Konkurrenz zu stellen. Er hatte einiges zu verlieren. Seine Bilanz seit Peking 2008 war einzigartig bei den großen internationalen Wettbewerben. Bei der WM 2009 in Berlin stellte er über 100 Meter (9,58 Sekunden) und 200 Meter (19,19) Weltrekorde auf, die bis heute Bestand haben. 2011 in Daegu (Südkorea) musste er seinen 100-Meter-Titel abgeben, weil er nach einem Fehlstart disqualifiziert wurde. Ansonsten war Bolt unschlagbar, ob bei den Weltmeisterschaften in Moskau 2013 und Peking 2015 oder den Olympischen Spielen 2012 in London oder 2016 in Rio de Janeiro. Doping­gerüchte umschwirrten den Jamaikaner angesichts seiner Übermacht selbst gegenüber Konkurrenten, die allesamt schon Strafen wegen der Einnahme verbotener Mittel abgebrummt hatten. Nur bei ihm wurde nie eine positive Probe bekannt. Bolt konnte niemand besiegen. Bis London 2017. Gleich am zweiten WM-Tag musste er über 100 Meter in 9,95 Sekunden zwei US-Amerikanern den Vortritt überlassen. Ausgerechnet Doping-Doppelsünder Justin Gatlin (9,92) und der erst 22 Jahre alte Christian Coleman (9,94) waren schneller.

Für Bronze im Einzelrennen wurde Bolt als Sieger gefeiert

Doch selbst danach wurde Bolt noch als wahrer Sieger gefeiert, weil die Niederlage ihn menschlicher machte und er keinerlei Probleme hatte, sie fair einzugestehen. Der vom Publikum gnadenlos ausgebuhte Gatlin huldigte ihm gar, indem er vor ihm pathetisch in die Knie ging. Bolt sagte, er sei auch über Bronze „sehr stolz. Ich bin gesegnet.“ Er zeigte noch einmal den Flitzebogen, der ihn weltweit berühmt gemacht hatte, mit Jamaikas schwarz-gelb-grüner Fahne über den Schultern. Ein Bild, das fast jeder Mensch kennt.

In Erinnerung bleibt nun ein anderes Bild, das vom humpelnden Star, hinter dem der letzte Vorhang gefallen ist. Vielleicht ist genau das Usain Bolt, dem PR- und Medienprofi, beim Verlassen des Olympiastadions schon bewusst gewesen. Er hatte sich auf den Rückzug ins Privatleben gefreut. Und ihn sich auch verdient. Aber nicht so.