London. Vor dem Abschluss der Leichtathletik-WM droht ein historisch schlechtes Abschneiden. Eine Analyse

Nach sieben von zehn Wettkampftagen hatten die deutschen Leichtathleten bei der WM nur eine Medaille durch Siebenkämpferin Carolin Schäfer geholt. Es droht ein historisch schlechtes Abschneiden. Die bisherige negativste Bilanz: 2003 holte das Team nur vier Medaillen. Auch die Schwimmer gewannen bei der WM vor zwei Wochen nur eine Medaille. Sind die deutschen Leichtathleten wirklich so schlecht? Eine Analyse: Vom Ist-Zustand über die Perspektive bis zum Einfluss des Fernsehens und des Fußballs.

Der Ist-Zustand
Seit dem Tiefpunkt bei der WM 2003 (in Paris gab es einmal Silber und dreimal Bronze) hat das deutsche Leichtathletik-Team bei Weltmeisterschaften zwischen neun (bei der Heim-WM 2009) und sechs Medaillen (2005) gewonnen. Durch den Rücktritt von Speerwurf-Weltmeisterin Christina Obergföll und der Schwangerschaft von Kugelstoß-Weltmeisterin Christina Schwanitz fehlen Topsportler, die regelmäßig auf dem Podium standen. Aber es gab auch große Enttäuschungen in London. Kugelstoß-Weltmeister David Storl hatte ausgerechnet zum Saison-Höhepunkt technische Probleme, Speerwurf-Weltmeisterin Katharina Molitor fand nicht zu ihrer Form, und Stabhochsprung-Weltmeister Raphael Holzdeppe leistete sich sogar einen „Salto Nullo“. In der einstigen deutschen Paradedisziplin ging es zuletzt steil bergab. 2012 holte Björn Otto bei Olympia noch Silber, Holzdeppe Bronze. Die Medaillen-Bilanz könnte sich in London aber noch steigern, denn der Zeitplan meinte es nicht gut mit dem Team: Die starken Speerwerfer (s. Bericht unten), der Zehnkampf und die Frauen-Sprintstaffel stehen erst noch auf dem Programm. Spanien und Italien haben übrigens noch keinen Athleten unter die ersten drei gebracht.

Die Perspektive
„Wir bauen gerade ein neues Team für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio auf“, sagt Idriss Gonschinska, der Sportdirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes. Ob so große Talente wie die Dortmunder Sprinterin Gina Lückenkemper oder Mittelstrecklerin Konstanze Klosterhalfen aus Leverkusen dann schon für Medaillen gut sind, muss sich erst noch zeigen. Im Vergleich zum Schwimmen gibt es in der Leichtathletik eine Vielzahl von Talenten, die den Sprung in die Spitze schaffen könnten. Sorgen macht die einstige deutsche Domäne. In den Wurfdisziplinen ist die Spitzenstellung bis auf das Speerwerfen der Männer verloren gegangen.

Die Globalisierung
Schwimmen und Leichtathletik sind Sportarten, die weltweit betrieben werden. Dementsprechend groß ist die Konkurrenz. Bei der ersten Leichtathletik-WM 1983 kamen 27 Nationen in die Medaillenränge, 2007 waren es sogar 47, und in London sind es bereits 33. 205 Nationen gehen bei der WM 2017 an den Start, beim Schwimmen waren es bei der WM vor zwei Wochen 182, von denen 29 Medaillen holten. Zum Vergleich: Bei der Biathlon-WM verteilten sich die Medaillengewinner nur auf zehn, bei der Rodel-WM 2017 sogar nur auf sieben Nationen.

Die Förderung
In Deutschland ist es schwer, Studium/Beruf und Leistungssport zusammenzubringen. Deshalb haben schon einige Asse wie Schwimm-Weltmeister Markus Deibler oder Weitsprung-Europameister Christian Reif frühzeitig aufgehört. Hürdenläufer Matthias Bühler beklagte sich in London, er könne nur durch die Unterstützung seiner Eltern Sport treiben. Bühler ist nicht der Regelfall, weil er Geld für seinen Aufenthalt in den USA fordert.

Man kann sich auch in Deutschland gut vorbereiten, wie es Siebenkämpferin Carolin Schäfer gezeigt hat, die wegen der Erkrankung ihres Trainers statt im Ausland vor der WM in Saarbrücken geblieben ist. Doch es ist auch für Athleten in Deutschland schwer, vom Sport zu leben. Eine Rücklagenbildung ist gar nicht möglich.

Die Leistungssportreform
Viele Athleten und Trainer haben große Zweifel, ob die Leistungssportreform schnell zu Verbesserungen führt. In Deutschland wird streng nach Leistung gefördert. Je stärker, desto mehr Geld. Aber wie soll eine schwächelnde Sportart aus der Krise kommen, wenn sie noch weniger Geld bekommt? Das Schwimmen muss beispielsweise ab 2018 mit 80 Prozent der Fördergelder auskommen, soll aber mit geringeren Mitteln verhindern, dass es zum dritten Mal in Serie bei den Sommerspielen leer ausgeht.

Die Dopingfrage
Deutsche Sportler sollen sauber sein. Das ist zu begrüßen. Deshalb werden die Athleten umfangreich getestet. Das ist nicht immer angenehm. „Ich werde beim Pinkeln von jemandem beobachtet, den ich vorher noch nie gesehen habe“, sagt Gina Lückenkemper. „Aber für den sauberen Sport mache ich das natürlich.“ Gleichzeitig sollen die sauberen Sportler in Deutschland viele Medaillen gewinnen und sich gegen Athleten behaupten, in deren Ländern das Kontrollsystem mehr als fragwürdig ist.

Der Einfluss des Fußballs

und des Fernsehens

Die Leichtathleten und Schwimmer kommen ohne Sponsoren nicht aus. Diese zu finden wird aber immer schwerer. Unternehmen steigen lieber als dritter oder vierter Partner bei einem Fußball-Bundesligisten ein. Und wenn eine WM wie die der Schwimmer von ARD und ZDF nicht übertragen wird, ist die Vermarktung noch schwieriger. Sponsoren wollen ihre Sportler im Fernsehen präsentieren. Eine gute Nachricht gab es am Freitag für die olympischen Kernsportarten Leichtathletik und Schwimmen: Die Olympischen Spiele werden bis 2024 von ARD und ZDF übertragen (s. Bericht S. 32).