HAmburg. Der frühere HSV-Vorsitzende vermisst eine Strategie im Kontrollgremium und fordert mehr Unabhängigkeit von Investor Kühne

Dem Fußball ist Carl Jarchow (62) als Vizepräsident des Hamburger Fußballverbandes weiter verbunden. Den HSV begleitet der FDP-Politiker (Innenpolitischer Sprecher) nach seinem Ausscheiden aus dem Vorstand im Mai 2015 nur noch als Zuschauer. Was er seitdem beobachtet, beunruhigt ihn jedoch sehr.

Herr Jarchow, wie groß ist Ihre Bindung zum HSV noch?

Carl Jarchow: Sicher etwas distanzierter seit dem Ende meines Vertrags. Dennoch ist und bleibt das mein Verein. Ich bin seit 50 Jahren HSV-Anhänger und hoffe, bald bessere Zeiten zu sehen.

Sie haben sich seit Ihrem Abschied mit öffentlichen Äußerungen zurückgehalten. Warum haben Sie sich zu diesem Gespräch bereit erklärt?

Was mich umtreibt, ist die Perspektivlosigkeit. Ich sehe keine Antworten auf drängende Fragen: Wie soll es eigentlich weitergehen? Wo wollen wir hin? Soll Herr Kühne den Verein einmal übernehmen? Ich vermisse eine Strategie, aus der schwierigen Situation herauszukommen. Es wird immer weiter gewurstelt, immer neues Geld aufgenommen.

Aber warum melden Sie sich gerade jetzt?

Die Ausgliederung der Lizenzabteilung ist gut drei Jahre her und damit der amtierende Aufsichtsrat drei Jahre im Amt. Im Spätherbst steht eine Neuwahl dieses Gremiums an. Ein guter Anlass, um zu bilanzieren, was in diesem Zeitraum passiert ist. Unterm Strich ist es absolut enttäuschend, wo wir stehen.

Sie haben sich damals als HSV-Vorsitzender doch selbst für die Initiative HSVPlus stark gemacht.

Ich behaupte sogar: Ohne uns im Vorstand hätte es nicht funktioniert. Der damalige Aufsichtsrat war mehrheitlich dagegen. Ich war der festen Überzeugung, dass es der richtige Weg sei, um unsere sportlichen und finanziellen Probleme in den Griff zu bekommen.

Aber?

Ich empfehle Ihnen, sich die Rede des damals designierten Aufsichtsratsvorsitzenden Karl Gernandt während der Mitgliederversammlung 2014 auf YouTube anzuschauen. Er sagte, dass jetzt neue Zeiten beginnen würden. Mit einem sportlich und wirtschaftlich kompetenten Team im Aufsichtsrat wolle man die Raute stärken, finanziell besser dastehen, mit einer jungen Mannschaft Erfolg haben und in drei Jahren eine solide Mannschaft mit Spielern aus dem eigenen Nachwuchs geschaffen haben, um in die Transferperiode mit einem breiten Kreuz gehen zu können, da die Finanzen geordnet seien. Für mich ein Schlüsselsatz, wenn man sich überlegt, wo wir heute stehen.

Nämlich wo?

Denken Sie an die Hauptziele von HSVPlus. Der HSV wollte Schulden abbauen, einen strategischen Partner finden und eine neue Mannschaft bauen. Tatsächlich sind die Schulden gestiegen, manche sagen dramatisch. Sportlich haben wir drei Jahre gegen den Abstieg gespielt. Und unter den jetzigen Gegebenheiten wird der HSV niemals einen strategischen Partner finden. Solch ein Unternehmen hätte ein Interesse, seine Marke über den HSV zu präsentieren. Es hat aber kein Interesse daran, dass Mitgesellschafter in der Zeitung die Arbeit des Vorstandes kommentieren. Das kann nicht sein.

Sie haben selbst mit Herrn Kühne zusammen gearbeitet und dank seiner Hilfe Rafael van der Vaart verpflichtet.

Rückblickend war van der Vaarts Rückkehr mein Fehler. Frank Arnesen hatte andere Varianten favorisiert und damit wohl recht. Der Systemfehler wurde allerdings schon damals deutlich. Wir waren uns im Vorstand einig, nicht mehr als neun Millionen Euro zahlen zu wollen und pokerten mit Tottenham, weil man dort mit Modric einen Nachfolger verpflichtet hatte. Herr Kühne wurde jedoch immer nervöser und machte dies auch deutlich. Am Ende wurde der Transfer teurer, da Tottenham wusste, dass Kühne involviert war.

Wie sollte man denn beim HSV mit Herrn Kühne umgehen?

Verstehen Sie mich nicht falsch: Er hat viel für den HSV getan und verdient einen vernünftigen, respektvollen Umgang. Nur: Wir müssen aus der Abhängigkeit raus. Für mich ist ein Investor jemand, der zu bestimmten Bedingungen sein Geld zur Verfügung stellt oder sich beteiligt, aber keinen Einfluss auf das operative Geschäft nimmt. Sobald das geschieht, darf dies der Vorstand nicht akzeptieren, weil er seiner Eigenständigkeit beraubt wird. Das scheint mir hier der Fall zu sein. Verschärfend kommt noch dazu, dass Kühnes Ratgeber der Berater mehrerer Spieler ist und auch Kontakt zum Trainer hält.

Dieser Berater hat öffentlich erklärt, dass er nicht mehr Kühnes Berater sei.

So, hat er das gesagt? Sie können das ja auch glauben. Ich muss es nicht. Worum es mir aber hauptsächlich geht: Sobald jemand wie Herr Kühne virtuell mit am Verhandlungstisch sitzt, wird es teurer für den HSV. Schauen Sie sich doch die Mannschaft an! Dass sie völlig überbezahlt ist, zeigt sich daran, dass für wie Sauerbier angebotene Spieler wie Lasogga, Hunt und Holtby kein Markt existiert. Und die ganze Bundesliga schüttelte den Kopf über den Kostic-Transfer. Der HSV hat nichts auf der Naht, zahlt aber 14 Millionen Euro, wo jeder andere Club bei sieben Millionen Euro ausgestiegen wäre. Nicht mehr Geld auszugeben als man einnimmt, ist eine uralte Regel. Irgendwann muss der HSV da hinkommen.

Pardon, Sie haben das auch nicht geschafft während Ihrer Amtszeit.

Ich weiß, dass das nicht besonders erfolgreich gelaufen ist. Von eigenen Fehlern abzulenken, liegt mir fern. Erinnern möchte ich allerdings kurz daran, dass Oliver Kreuzer in der Transferperiode 2013/14 nur 2,7 Millionen Euro zur Verfügung standen. Ich spüre einfach eine permanente Unzufriedenheit in mir über die Zukunftsaussichten. Viele Fans denken sicher nach dem Motto: Na ja, wir werden schon irgendwie durchkommen. Wenn nicht, gibt es ja wieder Geld von Kühne. Warum aber denkt nicht jemand darüber nach, wo das hinführen soll? Wie stoppen wir das?

Immerhin finden sich im aktuellen Kader gleich mehrere junge Talente.

Richtig, jetzt fängt man damit an. Früher hat man – verkürzt gesagt – Jonathan Tah verkauft und Emir Spahic verpflichtet. In den vergangenen drei Jahren ist in dem Bereich zu wenig passiert.

Wo könnte man denn sofort ansetzen?

Zum Beispiel nicht nur Transfers mit dem Geld fremder Leute zu realisieren. Zur Not muss ich auch einmal bereit sein, Spieler wie Nicolai Müller oder Bobby Wood zu verkaufen. Stattdessen hat man ohne Not einen noch laufenden Vertrag verlängert und die Bezüge erhöht. Absurd. Und man zahlt sechs Millionen Euro Ablöse für einen verletzungsanfälligen Spieler. Noch immer dürfte das Gehaltsbudget weit über 50 Millionen Euro liegen und damit außerhalb der DFL-Vorgaben. Ich finde das unsolide. Erinnern darf ich daran, dass sich der HSV in den drei Jahren mindestens zweimal am Rande der Zahlungsunfähigkeit befand.

Was erwarten Sie von Ihrem Nach-Nachfolger Heribert Bruchhagen?

Der Vorstand verdient die Unterstützung aller bei dem Prozess, um finanziell wieder eigenständig handeln zu können. Dafür braucht er aber auch die Rückendeckung des Aufsichtsrats, sonst wird er das nicht schaffen.

Sie sprachen es eingangs an, die Neubesetzung des Kontrollgremiums steht an. Wofür plädieren Sie?

Die Bilanz der Vergangenheit kann nur zur Konsequenz haben, sich um eine andere Besetzung für den Aufsichtsrat zu bemühen, die uns aus der derzeitigen Situation mit einem Konzept herausführt. Ich halte den Aufsichtsrat für hauptverantwortlich für das, was in den drei Jahren passiert ist. Andreas Peters würde ich hiervon ausnehmen wollen, er kam ja erst sehr viel später dazu.

Herr Kühne meldete vor einiger Zeit den Wunsch an, einen Vertrauten in den Aufsichtsrat entsenden zu wollen.

Wenn jemand 17 Prozent der AG-Anteile hält, ist das nachvollziehbar. Er wäre jedoch gut beraten, sich eine andere Person als Karl Gernandt zu suchen.

War es rückblickend ein Fehler, ihn anfangs als Vertrauten Kühnes zum Vorsitzenden des Kontrollgremiums zu küren?

Jedenfalls hat er die Entwicklung der vergangenen drei Jahre maßgeblich zu verantworten. Im Nachhinein war es ein Fehler, ja.

Was ist bei dem Verkauf der HSV-Anteile schief gelaufen?

Natürlich ist solch ein Wert immer beeinflusst durch den Markt, Angebot und Nachfrage. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG errechnete damals im Gutachten eine Spanne von 290 bis 330 Millionen Euro, dies war die Grundlage für die Verhandlungen. Ich empfand einen Preis von über 300 Millionen Euro als realistisch. Hertha BSC Berlin wurde damals auf 290 Millionen Euro geschätzt, hatte aber keinen Grundbesitz. Auch der VfB Stuttgart, ein mit uns sehr vergleichbarer Club, verkaufte seine Anteile zu einem Unternehmenswert von 353 Millionen Euro. Wir lagen am Ende bei 250 Millionen Euro. Für mich noch heute ein zu niedriger Wert. Herrn Kühne werfe ich das nicht vor.