Hamburg. Der Hamburger Verein „Jugend hilft Jugend“ will bei den Meisterschaften seinen Titel verteidigen. Team nur mit Suchtkranken

Straßenfußballer sind angeblich vom Aussterben bedroht. Sehnsüchtig beklagen Fans und Medien das Verschwinden dieser Spezies, gerne als „echte Typen“ bezeichnet, aus Deutschlands Volkssport Nummer eins. Das ist falsch! Immerhin kicken in Hamburg die deutschen Meister im Straßenfußball. 2013, 2014 und 2016 holte das Team von „Jugend hilft Jugend“ den Titel, am 28. und 29. Juli in Nürnberg soll der nächste große Coup folgen. Nur Profis werden diese Jungs wohl nie. Denn der Kader besteht aus Spielern, die über einen längeren Zeitraum abhängig von Suchtmitteln waren.

„Wir haben eine große Bandbreite in unserer Mannschaft. Rauschgift, Alkohol, Opiate. Es ist vieles dabei“, sagt Andreas Twisselmann (39). Der Sporttherapeut leitet für „Jugend hilft Jugend“ (JHJ) den sonntäglichen Hallenkurs der Mannschaft in der Bartelsstraße (Altona) von 16 bis 18 Uhr. Gekickt wird bei vielen Turnieren in einem mobilen Soccer-Käfig. Drei gegen drei plus Torwart. Der Kader besteht aktuell aus zehn Spielern, die sich in stationärer, teilstationärer oder ambulanter Betreuung befinden. Bedingung für die Teilnahme: Wer mitmachen will, muss clean sein. Twisselmann begleitet die Spieler im therapeutischen Kontext zusätzlich mit Gesprächen, leitet unter anderem theoretische Gruppen, in denen Ernährung und Befindlichkeit Themen sind. Seine Erfahrung: „Mit Empathie und Verständnis komme ich oft weiter als mit Lautstärke.“ Mit Medien reden möchten viele seiner Spieler nicht. „Sie entstammen unterschiedlichsten Schichten. Wir haben hier Akademiker, Flüchtlinge, frühere Gefängnisinsassen. Aber eigentlich eint alle eines: Sie haben eine Menge böser Dinge erlebt, kommen aus schwierigen Verhältnissen.“

Einer, der keine Scheu hat, von diesen „bösen Dingen“ zu erzählen, ist Christian Schlupp, seit zwei Jahren Torwart des Teams. „Im letzten Jahr habe ich mir einen Kindheitstraum erfüllt. Ich bin deutscher Meister geworden. Jeder Fußballer will deutscher Meister werden“, sprudelt es aus ihm heraus. Dabei stand Schlupp bei der deutschen Straßenfußballmeisterschaft in Kiel im Sommer 2016 keine Minute zwischen den Pfosten. Einen Tag vor Turnierbeginn verstarb seine Mutter. Die Mutter, die er schon als kleines Kind oft „besoffen in der Ecke hat liegen sehen“.

Schlupps Eltern waren Alkoholiker. Sie ließen sich früh scheiden, der kleine Christian verbrachte seine „beste Zeit“ im Heim in Buchholz. Den Kontakt zur Mutter nimmt er wieder auf, der Vater interessiert sich bis heute nicht für ihn. „Als Kind musste ich ihn in den Kneipen suchen. Die Leute sagten: ‘Schlupp? Der hat hier Hausverbot.’ Das tat sehr weh. Und es belastet mich, dass er nichts von mir wissen will“, sagt er traurig.

Durch „Kiffen, Alkohol und falsche Freunde“, wie Schlupp prägnant zusammenfasst, geriet sein Leben auf den Fugen. Eine neue Arbeit und das Straßenfußballteam fangen ihn wieder auf. Trotz des schweren Verlustes reist er 2016 zum Finaltag an, gibt dem Ersatztorwart Tipps, jubelt am lautesten, als der Abpfiff ertönt. „So ist unser Team“, sagt Twisselmann. „Ein bunter Haufen, und alle helfen sich.“

Sportlich könnte hier so mancher Holzfußprofi etwas lernen. Was einige Spieler mit dem Ball anstellen, ist technisch sehr stark. Twisselmann, selbst ein Könner an der Kugel, kann zu jedem ein kleines Kurzprofil geben.

„Er war abhängig von Opiaten“, sagt er zu einem Spieler mit dem Körper eines Modellathleten. „Er ist unsagbar fit, immer adrett gekleidet. Sein Aussehen verrät seine Geschichte nicht, im Gegenteil.“ Beschreibungen wie „Er hat mindestens das Potenzial für die Landesliga“ oder „Für ihn ist Fußball alles, und er nimmt nun sogar an der Weltmeisterschaft im Straßenfußball teil“ provozieren die Frage: Warum können diese Spieler nicht doch noch die Massen in den großen Arenen verzaubern?

„Sie würden die Struktur nicht durchhalten“, sagt Twisselmann. „Dreimal die Woche Training würde sie überfordern. Bei manchen bestünde die Gefahr eines Rückfalls. Es spielt auch ein Spieler hier, der sich die große Karriere durch Kiffen zerstört hat.“ Und so kicken sie in der Bartelsstraße, zeigen ihre Hackentricks, knallen Bälle in den Winkel. „Dabei“, so Twisselmann, „freuen sie sich nicht weniger, als wenn Mesut Özil ein Tor schießt. Es sind dieselben Prinzipien wie bei den Stars: Kampf um Anerkennung und Aufmerksamkeit sowie das Ausleben großer Emotionen.“

Manchmal bremst Twisselmann seine Spieler deshalb. Wenn sie trotz Verletzungen spielen wollen, so wie Christian Schlupp, der bei einem Turnier böse umknickte und fast mit Gewalt davon abgehalten werden musste, wieder ins Tor zu gehen. „Heute sehe ich das ein“, sagt er. Und ist sofort gedanklich bei seinem nächsten großen Traum. „Jetzt will ich in Nürnberg im Tor stehen und Meister werden. Und dann in die Nationalmannschaft und für Deutschland bei der WM spielen.“

Seite 1 Menschlich gesehen