London. Die größte deutsche Tennishoffnung wird in absehbarer Zeit Grand-Slam-Turniere gewinnen. Geduld ist gefragt

Alexander Zverev fuhr sich mit den Fingern durch die Wuschelmähne, sein Gesicht spiegelte all die Emotionen, die in ihm wüteten: Enttäuschung, Verärgerung und Genervtheit – darüber, dass er ein schon gewonnen geglaubtes Wimbledon-Achtelfinale gegen den Kanadier Milos Raonic noch mit 6:4, 5:7, 6:4, 5:7 und 1:6 verloren hatte. Und dass er nun hier, im Hauptmedienraum der All England Championships, sitzen und diese Niederlage erklären musste. Und dann sagte Zverev diese Sätze, die so wunderbar die Unzufriedenheit und den Ehrgeiz einfingen, die den 20 Jahre alten Hamburger zum größten Versprechen der Tenniswelt gemacht haben.

„Wir reden seit drei Jahren darüber, dass ich aus Niederlagen lerne“, sagte er, „aber irgendwann habe ich keine Lust mehr zum Lernen. Irgendwann will ich diese Matches gewinnen!“ Die Rotzigkeit, mit der der Weltranglistenzwölfte den Reportern seinen Verdruss in die Blöcke und Diktiergeräte schleuderte, sie war ein letzter Beweis dafür, dass Alexander Zverev es sehr weit bringen wird. Wer sich nach einem unglücklich verlorenen Fünfsatzduell mit einem sechs Jahre älteren und fünf Weltranglistenplätzen besser notierten Spitzenspieler maßlos über eigene Unzulänglichkeiten echauffiert, anstatt die vielen positiven Aspekte herauszustreichen, der hat genau die Einstellung, die es braucht, um sich an der Spitze zu behaupten, wo es bisweilen Ellbogen braucht anstatt Fingerspitzengefühl. Alexander Zverev hat in Wimbledon die nächste Stufe auf seiner Karriereleiter genommen. Zum ersten Mal stand er bei einem der vier Majorturniere in der zweiten Woche, und die Art und Weise, wie er sich ohne Satzverlust seiner ersten drei Kontrahenten entledigte, beeindruckte. Er mag zwar erst 20 Jahre alt sein und auch so aussehen mit seinem jugendlichen Gesicht und den 198-Zentimetern-Körpergröße, der trotz professionellen Krafttrainings noch immer schlaksig wirkt. Aber die Erfahrung, die er seit früher Kindheit durch die Turnierreisen mit seinem Bruder Mischa (29) gesammelt hat, zeigt sich in einer erstaunlichen Reife auf dem Platz. Zverev unterschätzt seine schwächeren Gegner nie, er geht aber auch ohne Ehrfurcht vor den Branchengrößen ins Match, stets mit dem festen Glauben daran, am Ende der Sieger zu sein. Das erklärt auch seine Enttäuschung, wenn er es dann nicht ist.

Das internationale Interesse am jüngeren Sohn der früheren sowjetischen Topspieler Irina Zvereva und Alexander Zverev, das war in London zu beobachten, wächst. Zwar waren die deutschen Reporter auf der Tribüne und in den Pressekonferenzen klar in der Überzahl, doch das Vorhaben von Zverevs Manager Patricio Apey, sein Juwel zur globalen Marke zu schleifen, scheint aufzugehen. Fraglos sollte der bisweilen respektlos auftretende Jungstar bei Vorbildern wie Roger Federer, Rafael Nadal oder auch seinem Bruder Anschauungsunterricht im Umgang mit Medien nehmen. Aber er ist ja auch erst 20 und setzt die Prioritäten eben aktuell im Sport, was sich auszahlt.

Er hatte ja nicht nur Raonic am Rande einer Niederlage, sondern im Januar in Runde drei der Australian Open auch Nadal. Der Spanier siegte in fünf Sätzen, weil letztlich seine Erfahrung und die körperliche Konstitution den Ausschlag gaben. Gleiches nannte auch Raonic als Gründe für seinen glücklichen Sieg. Dass Zverev mit seinem starken Aufschlag, den peitschenden Grundschlägen und seinem Auge für die Lücken im Feld auf Toplevel bereits mitspielen kann, wies er bei seinem Masterstriumph in Rom im Mai nach, als er im Finale Novak Djokovic besiegte.

Er wird diese Spiele irgendwann auch auf Grand-Slam-Niveau gewinnen, muss aber geduldig bleiben. Vielleicht gelingt das schon bei den US Open Anfang September in New York, oder beim ATP-Tourfinale in London im November, für das er aktuell als Fünfter der besten acht Spieler des Jahres qualifiziert wäre, obwohl er für die Junioren-WM in Mailand vorgesehen war. Aber bis dahin – und auch darüber hinaus natürlich – darf Alexander Zverev nicht aufhören zu lernen. Auch wenn das bedeutet, dass noch manche Niederlage auf ihn warten wird.