Erfurt. Bei den deutschen Meisterschaften am Wochenende geht es für Olympiasieger Thomas Röhler trotzdem nicht um die Weite, nur um den Sieg

Er ist einer von zwei amtierenden deutschen Olympiasiegern in der Leichtathletik. Doch anders als der Berliner Diskusriese Christoph Harting hat Speerwerfer Thomas Röhler seine gute Form aus Rio de Janeiro in die nacholympische Saison gerettet. Anfang Mai erzielte der 25-Jährige beim Diamond-League-Meeting in Doha (Katar) mit 93,90 Metern einen neuen nationalen Rekord, weitere 90-Meter-Würfe folgten. Der Jenaer glaubt, dass für ihn sogar 100 Meter möglich sind. Vor den deutschen Meisterschaften am Wochenende in Erfurt redet Röhler über den perfekten Wurf, den Neid der internationalen Konkurrenz und seine Niederlagen in diesem Jahr.

Herr Röhler, Sie haben gesagt, dass 90-Meter-Würfe süchtig machen. Vor einer guten Woche haben Sie im tschechischen Ostrava diese Marke gleich zweimal übertroffen. Wie hat sich der Süchtige danach gefühlt?

Thomas Röhler: Ich war natürlich sehr zufrieden, das war ein Wettkampf auf einem superhohen Niveau. Es klingt vielleicht komisch, aber das waren Würfe, die sich irgendwie einfach angefühlt haben. Sie fühlten sich so sauber an, dass der Speer schon aufgrund der technischen Präzision so weit geflogen ist.

Wonach ist Ihre Sucht größer: Nach dem perfekten Wurf, bei dem alles zusammenpasst, Wind, Technik, Anlaufgeschwindigkeit, Form? Oder nach den 100 Metern?

Das schließt sich ja nicht aus, aber ich will keine Rekorde jagen. In Ostrava war mein Ziel zu gewinnen, möglichst sicher. Letztlich ist das alles ein riesengroßes Training für die WM in London. Aber es gibt schon Wettkämpfe, bei denen man von der Saisonplanung her mehr auf die Performance, also auf große Weite geht. Ostrava war so einer.

2012 in Wattenscheid sind Sie mit 78,58 Metern zum ersten Mal deutscher Meister geworden, seitdem Jahr für Jahr wieder, immer mit Leistungssteigerungen, zuletzt in Kassel mit 86,81 Metern. Dann kam der Olympiasieg in Rio mit 90,30 Metern. In dieser Saison haben Sie einen weiteren Riesenschritt auf 93,90 Meter gemacht. Und Sie sind erst 25 Jahre alt. Wo führt das hin?

Es klingt vielleicht verrückt, aber die 100 Meter sind für mich möglich. Ich muss mich nur stetig weiterentwickeln. Dafür braucht man gut funktionierendes Training, Verletzungsfreiheit. Und eines Tages braucht es den perfekten Tag mit allen Bedingungen. Das ist ein total geiler, genialer Antrieb für mich, nach diesem eigentlich unrealen Ziel zu streben.

Welchen Stellenwert hat für Sie eine deutsche Meisterschaft in Ihrer Heimat Thüringen?

Inhaltlich ist sie sehr wichtig, das ist die Plattform schlechthin für die deutsche Leichtathletik, bei der wir auch eine sehr große Breite an Athleten sehen werden. Im Speerwerfen müssen wir etwas differenzieren. Wir sind vier Jungs, für die es vor allem um die Auswahl für drei WM-Tickets geht. Für Johannes Vetter und mich geht es in erster Linie darum, beim Großereignis topfit zu sein. Das heißt, es wird in Erfurt bei schwierigen Bedingungen weniger um Weite als um den Sieg gehen.

Sie treffen bei den Meisterschaften auf die Weltspitze. Sie, Johannes Vetter und Andreas Hofmann sind die Nummern eins bis drei der Weltjahresbestenliste, Lars Hamann ist unter den Top Ten. Warum sind die deutschen Speerwerfer so stark?

Das wird international munter hinterfragt. Jeder will an unserem Wissen teilhaben. Wir können es zum Teil gern preisgeben. Wir haben verstanden, das Speerwurf super-individuell ist. Unsere Trainer können in gemeinsamen Trainingslagern aus einem Riesenpool an Ideen schöpfen. Jeder nimmt was mit nach Hause, was ein helfender Impuls sein kann. Wir sind außerdem alle fast in einem Jahrgang, pushen uns gegenseitig, um ans Limit zu kommen. Keiner von uns verpasst einen Trainingstag.

Denken Sie, es ist möglich, dass bei der WM in London Gold, Silber und Bronze nach Deutschland gehen?

Ausschließen kann man das nicht, aber die Gegner sind besonders motiviert, dieses Dreigestirn zu ärgern. Natürlich wollen wir so gut wie möglich abschneiden, andererseits sollte man die Erwartungen auch ein bisschen flach halten. Speerwerfen hängt von der Tagesform und stark von den Bedingungen ab.

Das lässt sich mit Ergebnissen belegen. Vor Ostrava bei der Team-EM in Lille (Frankreich) und nach Ostrava beim Diamond-League-Meeting in Paris wurden Sie jeweils Dritter. Was war da los?

Wie sich das anhört: Was war da los! Wir sind keine Maschinen, man muss das richtig einschätzen. Lille war Teil des Trainingsprozesses. Und Paris? Wenn man einen Wettkampf so auslebt wie ich kurz vorher in Ostrava, dann braucht der Körper auch mal zwei Tage, das war klar. Trotzdem habe ich zweimal über 87 Meter geworfen, das war nach meiner harten Wettkampf-Woche ein super Ergebnis. Zwei waren eben noch besser als ich – so funktioniert Speerwurf. Alles ist im Plan, keine Sorge. Andererseits war es auch ganz gut, mal wieder zu erleben, dass andere Athleten vorbeiziehen können.

Außer der Befriedigung, an dem einen Tag der beste Speerwerfer der Welt zu sein – was hat der Olympiasieg gebracht? Für Sie, auch finanziell, für das Speerwerfen insgesamt?

Da gibt es viele positive Faktoren. Wir spüren, dass mein Olympiasieg der gesamten Sportart gutgetan hat. Wir spüren, dass die Aufmerksamkeit für alle unsere Aktivitäten geschärft ist. Wir haben im Trainingslager zu viert ein lustiges Video gemacht ...

... Johannes Vetter, Andreas Hofmann, Lars Hamann und Sie mit freiem Oberkörper, viel Posing, viel Muskeln ...

... das international enorme Resonanz hatte. Selbst aus dem IOC hat man sich bei uns dafür bedankt. Wir promoten eine olympische Kernsportart, und das ganze Team zeigt aktuell sehr gute Leistungen. Für mich persönlich gibt es wesentlich bessere Möglichkeiten der Vermarktung. Ich habe das Gefühl, dass die Leichtathletik im Speerwerfen jetzt sehr nah an der Professionalität steht. Das ist eine Situation, wie man sie sich wünscht für eine Sportart, die auf Weltniveau agieren will.

Nebenher haben Sie Ihren Bachelor in Sport und Wirtschaft abgeschlossen.

Ich will mir erst mal noch viele Wege offenlassen. Es war mir immer wichtig, ein zweites Standbein zu haben und nicht 24 Stunden, sieben Tage nur mit Speerwerfen beschäftigt zu sein. Deshalb habe ich mir auch viele Nebenschauplätze gesucht, wie jetzt etwa das von uns organisierte Speerwurfmeeting in Jena, unsere Video- und Fotoaktivitäten, den Werbefilm für die EM 2018 in Berlin. Im Weltverband IAAF bin ich jetzt auch engagiert, das sind alles Sachen, die helfen, den Kopf vom Sport mal freizukriegen.

Gibt es Nachahmungseffekte beim Nachwuchs?

In meinem Verein LC Jena wurde mein Diamond-League-Sieg groß gefeiert. Seither imitieren die Kids Speerwerfen, machen Laufübungen über kleine Stäbe. Wir spüren einen vergleichsweise großen Zulauf, viele Kinder wollen Werfer werden. Eigentlich sollte man sie davon abhalten, so früh damit anzufangen. Wir brauchen Talente mit einer breiten leichtathletischen Ausbildung.

Womit haben Sie angefangen?

Ich war erst Mehrkämpfer, dann vier Jahre Hochspringer und Dreispringer.

Verraten Sie Ihre Bestwerte?

1,96 Meter hoch, im Dreisprung so um die 14 Meter rum. Ich habe die Weite im Wettkampf leider nie auf die Bahn gebracht. Letztlich war aber Speerwerfen immer meine Leidenschaft. Und darüber bin ich jetzt ganz froh.