London. Hamburgs beste Tennisspielerin will in Wimbledon ihre neu gewonnene Reife sportlich untermauern

Das mit ihr und London sei schon eine besondere Beziehung, sagt Carina Witthöft. In den meisten Städten, in denen die 22-Jährige ihren Dienst auf dem Tennisplatz verrichtet, wählt sie immer wieder dieselbe Unterkunft. Ist ja auch nicht schlecht, im hektischen Turniertrubel, der jeden Tag neue Eindrücke en masse produziert, eine Konstante zu haben. „Nur hier“, sagt die Hamburgerin, „da klappt das nie. Manchmal habe ich sogar noch während des Turniers die Unterkunft wechseln müssen. Hier ist eben alles ein bisschen anders.“

Das stimmt wohl, aber genau das ist ja auch der Reiz an diesen All England Championships. Wimbledon – nichts assoziieren Menschen weltweit stärker mit Tennis als den Namen dieses Süd-Londoner Distrikts sieben Meilen südwestlich des Stadtzentrums. Carina Witthöft, die an diesem Montag beim dritten Grand-Slam-Turnier der Saison ihr Auftaktmatch gegen Mirjana Lucic-Baroni (35/Kroatien) bestreitet, geht es genauso. „Wimbledon war immer mein Traumziel“, sagt sie.

2004, als Maria Scharapowa als 17-Jährige ihren einzigen Wimbledon-Titel holte, saß Carina Witthöft vorm Fernseher und fieberte mit der Russin. Nicht, weil diese ihr Idol war, nein: Die damals Neunjährige hatte mit ihrer älteren Schwester Jennifer gewettet, dass Scharapowa siegen würde. „Das war die erste Berührung mit dem Turnier, die ich aktiv erinnere“, sagt sie. Neun Jahre später stand die Bundesligaspielerin des Clubs an der Alster dann selbst erstmals im Hauptfeld an der Church Road. Bei ihrer ersten Teilnahme 2013 hatte sie sich durch die Qualifikation geschlagen, scheiterte aber in Runde eins in nur 44 Minuten mit 0:6, 2:6 an der Japanerin Kimiko Date-Krumm, die damals mit 42 Jahren die älteste Teilnehmerin im Feld war. „Ich war so aufgeregt wie niemals zuvor oder danach und mit der Gesamtsituation einfach total überfordert“, erinnert sie sich.

Vier Jahre sind seitdem vergangen, und aus dem bisweilen launischen Teenager ist eine junge Frau geworden, die sich auf der WTA-Tour etabliert hat. Anfang des Jahres gab sie beim 0:4 im Erstrundenduell gegen die USA auf Hawaii ihr Debüt im Fedcupteam, stand beim 3:2 im Relegationsmatch gegen die Ukraine im April ebenfalls im Aufgebot, verlor aber jeweils an der Seite von Laura Siegemund (Metzingen) im Doppel. In den Fokus der Öffentlichkeit spielte sich die Abiturientin der Eliteschule des Sports am Alten Teichweg, deren Eltern Gaby und Kai im Hamburger Osten zwei Tennisschulen betreiben, aber Anfang Juni bei den French Open in Paris, wo sie als einzige Deutsche Runde drei erreichte.

„Da habe ich gemerkt, dass das Interesse an mir bundesweit gestiegen ist“, sagt sie. Für eine wie sie, die sich in den sozialen Netzwerken gern professionell in Szene setzt und sich von der Agentur Jung von Matt als Marke aufbauen lässt, war das eine wichtige Erfahrung, die sie allerdings nicht überbewerten will. „Als Mensch verändert mich das nicht, es war ja nur ein Turnier“, sagt sie, „aber ich habe einige neue Situationen kennengelernt, was für meine Entwicklung gut ist.“

Ihr Trainer Jacek Szygowski, der dem Gespräch aufmerksam, aber schweigend gefolgt war, nickt nun. „Carina konnte den Erfolg von Paris ganz gut einordnen. Wir gehen unseren eigenen Weg und versuchen, nur auf die nächste Aufgabe zu schauen, ohne dabei das große Ganze aus dem Blick zu verlieren“, sagt er. Dass sich viele Beobachter in den vergangenen Monaten über eine neue Reife wunderten; dass Bundestrainerin Barbara Rittner gar davon sprach, Witthöft sei „kritikfähiger geworden“, hat er regis­triert, hält diesen Prozess jedoch für eine natürliche Entwicklung. „Man darf ja nicht vergessen, dass Carina erst 22 ist. Sie wurde nicht, wie andere in ihrem Alter, schon früh auf die Profikarriere gedrillt, sondern hat sich für den Weg über das Abitur entschieden. Sie ist keine leere Hülle, sondern hat sich Zeit genommen, um anzukommen.“

Zeit, die ihr Umfeld ihr gewährte. Natürlich ist die Familie ehrgeizig. Kurzzeitig kümmerte sich der US-Branchenriese IMG um die Vermarktung, eine Reihe an Trainern wurde verschlissen, und eigentlich, so wurde in der Branche hinter vorgehaltener Hand geflüstert, würde die 176 Zentimeter große Rechtshänderin sowieso nur auf ihre Mutter hören, die stets alles besser wisse. Letztlich jedoch, sagt Carina Witthöft, sei dieser Weg der beste für sie gewesen. „Meine Eltern haben mich nie zum Tennis gezwungen, sondern mir den Freiraum gelassen, allein herauszufinden, was ich wollte. Deshalb kann ich sagen, dass ich mich selbst davon überzeugt habe, den Weg auf die Profitour gehen zu wollen.“

Auf diesem Weg soll nun möglichst schon in Wimbledon der nächste Schritt erfolgen. Nachdem sie mit dem Drittrundeneinzug in Paris nun bei allen vier Grand-Slam-Turnieren mindestens einmal zwei Runden überstanden hat, ist das Erreichen der zweiten Turnierwoche das erklärte und logische Ziel, das sie allerdings nicht offensiv formulieren möchte. Geduld bringt Rosen – dieser Spruch, den ihr die deutsche Tennislegende Boris Becker in Paris während einer Spielpause zuraunte, gefällt ihr.

„In den Top 100 der Weltrangliste kann wirklich jeder jeden schlagen“, sagt sie – und verweist auf den French-Open-Triumph der lettischen Außenseiterin Jelena Ostapenko (20). „Wer das vorhergesagt hätte, der wäre sehr reich geworden. Deshalb bleibe ich bescheiden und schaue von Runde zu Runde.“ Wieder nickt ihr Trainer. Dann sagt er: „Ohne Serena Williams ist das Feld sehr spannend. Es gibt viele, die gewinnen können: Petra Kvitova, Simona Halep, Karolina Pliskova, Angelique Kerber. Und warum nicht auch Carina?“

Carina Witthöft muss laut lachen und verschüttet dabei fast ihren Kaffee. „Ja, warum nicht?“, sagt sie dann. Es klingt zwar nicht so, als würde sie daran glauben. Aber es wäre die Krönung einer ganz besonderen Beziehung.