Der 96-Jährige erlebt am Sonntag zum 80. Mal das Deutsche Derby in seiner Heimatstadt Hamburg mit – erst als Jockey, dann als Trainer, später als Zuschauer

Die Kraft wird nicht mehr reichen, hatte Hein Bollow im vergangenen Sommer befürchtet – und innerlich Abschied genommen vom Deutschen Derby, von „seinem“ Rennen, das ihm so viel bedeutet. Die Krone des Turfs. Doch je näher der traditionsreiche Wettstreit um das Blaue Band rückte, desto intensiver spürte er den Lockruf seiner Heimatstadt Hamburg: „Hein, du musst da hin!“

Und so geschah am Freitag ein kleines Wunder des Willens: Zu Hause im dritten Stock einer Seniorenresidenz im Norden Kölns schloss Bollow in aller Herrgottsfrühe seinen Koffer und harrte des Chauffeurs. Unten parkte Jockey Filip Minarik sein Auto und half dem 96-Jährigen. Gemeinsam ging es auf die Autobahn 1 Richtung Norden. Auf nach Hamburg-Horn, auf zum Derby. Ein beglückendes Gefühl.

1953 gewann Bollow mit Allasch sein erstes Derby

An diesem Sonntag ist es das 80. Mal, dass Heinrich Bollow, den alle Welt Hein nennt, das Rennen des Jahres miterlebt – als Jockey, Trainer und Zuschauer. Die Aussicht auf dieses einmalige Jubiläum setzt überraschende Kräfte frei. Die lebende Legende des Galopprennsports bezog Quartier im NH-Hotel an der Rennbahnstraße. Von dort kann er auf das Grasgeläuf blicken, auf den Wandsbeker und den Horner Bogen. Dabei werden traumschöne Erinnerungen wach. Zum Beispiel an den ersten Juli-Sonntag 1962. „Bollow fand einen Durchschlupf“, schrieb das Hamburger Abendblatt am Tag danach in einer großen Überschrift, „und Herero überrannte alle“. Mit Instinkt und Chuzpe entdeckte der Lokalmatador im Endkampf eine Lücke und dirigierte seinen Fuchshengst couragiert als Ersten über die Zielmarkierung.

Für den Hamburger Jung Hein war es der vierte Triumph im bedeutendsten Rennen Deutschlands. Neun Jahre zuvor hatte er Allasch zum Sieg geritten, 1956 einen Vollblüter mit dem passenden Namen Kilometer. 1954 zeigte er dem Feld im Sattel von Kaliber die Hufe. Knapp zwei Stunden später schoss Helmut Rahn Deutschland in der Schweiz zur Fußball-Weltmeisterschaft. Hein Bollow hat diese Ereignisse präzise im Kopf. Der Mann mit dem gewinnenden Wesen und dem bescheidenen Naturell gilt als wandelndes Lexikon des Rennsports.

Dass der 96-Jährige fast taub ist, ändert nichts daran. Notiert man die Fragen auf einem Blatt Papier und legt sie ihm vor, sprudelt es aus ihm hervor, dass es eine Freude ist. Für beide Seiten. Manchmal antwortet Bollow auch ungefragt. Außerdem hat der Mann gelernt, Lippen zu lesen. „Ich komme von ganz unten“, sagt er, „und habe nichts geschenkt bekommen.“ Wahrscheinlich verhalf ihm dieser permanente Kampf, im Leben wie im Sattel, zu ausgeprägter Bodenhaftung. Allüren und Arroganz sind Fremdwörter für eine mit 1,54 Metern klein gewachsene Sportpersönlichkeit, die wahrlich Großes vollbrachte. Unter dem Strich seiner 51-jährigen Galoppkarriere stehen 2697 Siege – 1034 als Jockey und 1663 als Trainer. Insgesamt gewann er 14 Championate. 19-mal stieg er beim Derby in den Sattel. Immer gab er alles, bis zum Schluss und bis zum Letzten.

So hatte Hein es von seinem Vater Heinrich Bollow gelernt, nur anders. Der Unternehmer gründete 1912 im Westen der Hansestadt einen Fuhrbetrieb. Was später Lastwagen erledigten, transportierten früher Pferde. Nachdem Hein am 5. Dezember 1920 zur Welt kam, wuchs er an der Seite der Vierbeiner auf. Das Elternhaus befand sich in der Kanzleistraße 26–28 im heutigen Stadtteil Nienstedten. Damals war es ein Dorf. Die Umzugsfirma Bollow an der Osdorfer Landstraße, zuletzt in vierter Generation geführt, wurde zum 1. Juni dieses Jahres verkauft.

Als Kind, so erinnert sich Bollow, habe er auf dem Springderbyplatz in Klein Flottbek gespielt. Der Reeder Otto Blumenfeld, Vater des verstorbenen CDU-Politikers Erik Blumenfeld, gestattete es den Jungs, in den Stallungen zu verweilen und auf den Koppeln zu reiten. Der benachbarte Poloplatz war Heins zweites Zuhause.

1936 besuchte er erstmals das Galoppderby auf der anderen Seite der Stadt. An den Rails sah der 15-Jährige fasziniert den Triumph der Stute Nereide unter Ernst Grabsch. 1943 erlebte Bollow seine Premiere als Reiter im Blauen Band. Auf Unerreicht wurde er Neunter.

Gewiss hätte der Hamburger noch mehr Erfolge verbucht, wäre nicht der Schrecken des Zweiten Weltkriegs dazwischengekommen. Seine im Frühjahr 1936 gestartete Lehre als Rennreiter in Berlin-Hoppegarten konnte er im März 1940 noch abschließen. Er wurde zur Kavallerie eingezogen, kam an die Front, geriet später in französische Kriegsgefangenschaft. Glück gehabt.

Kleine Randbemerkung: Während des Arbeitsdienstes und des Auftrags, beim Bau eines Flughafens in der Nähe von Osnabrück zu helfen, fand sich für den jungen Mann mit dem geringen Wuchs keine geeignete Uniform. Und bei Schuhgröße 37 konnten keine passenden Stiefel aufgetrieben werden. Im Sattel war wenig Gewicht von Vorteil.

Bollow, so steht geschrieben, habe seinen Pferden quasi Flügel verleihen können. Indes blieb er selbst auf dem Boden. Lebenslang. Gemeinsam mit Box-Weltmeister Max Schmeling sang er im „Blauen Bock“ im Fernsehen, wurde in Wim Thoelkes Show eingeladen, klönte mit Loriot, erhielt das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, zierte mit seiner Anwesenheit Galas. Die Leute mochten ihn, die charakterstarke, lebensfrohe Persönlichkeit. Markenzeichen seinerzeit: Schiebermütze, Hornbrille, Kugelbauch, Hosenträger, lautes, herzhaftes Lachen.

Bollow ist ein Mann, für den Treue ein ehernes Prinzip ist

Als seine Frau Margot nach 56 Ehejahren Ende des vergangenen Jahrtausends verstarb, ließ sich Hein Bollow äußerlich nichts anmerken. Und als er sein Wohnhaus nahe der Kölner Rennbahn verkaufte und in eine Seniorenresidenz zog, ebenfalls nicht. „Hein war und ist ein Kämpfer“, wissen seine Freunde.

Wie schön, dass ein Mann, für den Treue ein ehernes Prinzip ist, ähnlich wertvolle Menschen zur Seite hat. Beispiele sind Jockey Filip Minarik oder Erfolgstrainer Peter Schiergen. Für den einen wie für den anderen ist es eine Ehre, die Freundschaft zu Altmeister Bollow zu pflegen. Einsätze als Chauffeure gehören selbstverständlich dazu.

„Ich habe noch nie in meinem Leben gewettet“, gibt Bollow zu Protokoll. Er favorisiert einen bescheidenen Stil, mag lieber Bauernfrühstück und Mettwurststullen als Hummer oder Kaviar, schätzt von jeher den Kontakt zur Basis. Auf dem Hippodrom steht er lieber beim Fußvolk als bei den Großkopferten. Hein ist gerne mittenmang, damals wie heute.

Einer wie er verzeiht einem auch merkwürdige Fragen: „Können Pferde denken, Herr Bollow?“ Aber natürlich, antwortet er geduldig, „jedes Pferd registriert genau alle Vorkommnisse in seinem Umfeld“. Außerdem messen Vollblüter von Kindesbeinen an ihre Schnelligkeit, haben einen ausgeprägten Spielgedanken und Renntrieb. „Sie laufen gerne um die Wette“, fügt er hinzu. Auch würde ein Pferd merken, wenn es gewonnen hat: „Dann ist es fröhlich.“

Mal sehen, wer am Sonntag kurz vor 16 Uhr dieses beglückende Gefühl genießt. Hein Bollow wird’s aus direkter Nähe erkennen, im Absattelring vor dem Waagegebäude. Weil er sich doch wieder auf den Weg gemacht hat. In seine Stadt, nach Hamburg.