Der Nürburgring wird 90 Jahre alt. Ein Buch erzählt in Bildern und Anekdoten die Geschichte der berühmten Rennstrecke in der Eifel

Der Nürburgring? „Meine Nummer eins, einfach fantastisch“, beschreibt die deutsche Rennfahrer-Legende Hans-Joachim Stuck (66) seine Lieblingsstrecke, auf der er schon als 19-Jähriger das 24-Stunden-Rennen gewann. „Du spürst alle Bodenwellen, da werden die Eingeweide wieder in die richtige Position gedrückt.“ Für einen Menschen mit Benzin im Blut wie Stuck ist die Nordschleife des Nürburgrings „die größte Gaudi der Welt“.

Mit ein wenig Glück hätte die berühmteste deutsche Rennstrecke vor den Toren Hamburgs liegen können. Denn zur Auswahl für den Bau der ersten permanenten Piste, die nicht das zivile Straßennetz belasten sollte, zählte Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1907 neben dem Taunus und der Eifel auch die Lüneburger Heide. Doch es waren das hügelige Gelände rund um die 850 Jahre alte Ruine der Nürburg und die unermüdliche Lobbyarbeit des Adenauer Landrats Otto Creutz, die der Eifel den Zuschlag für den Bau der „Ersten Deutschen Gebirgs-, Renn- und Prüfungsstraße“ bescherten. Bis zur Eröffnung der Rennstrecke im damaligen „Armenhaus Preußens“ vergingen allerdings 20 Jahre, die Monarchie war längst Geschichte. Aus zunächst veranschlagten knapp zwei Millionen Reichsmark wurden am Ende 14 Millionen.

Bei den Rennen waren bis zu 400.000 Menschen dabei

Die klassische Nordschleife des Nürburgrings war ein architektonisches Meisterwerk, mit ihren 89 Links- und 85 Rechtskurven und einem Höhenunterschied von 300 Metern Welten entfernt von den brettebenen und sterilen Pisten der Neuzeit. 150.000 Menschen kamen vor 90 Jahren, am 18. Juni 1927, zum ersten „Eifel-Rennen“, das Mercedes-Großmeister Rudolf Caracciola in einem „S“-Sportwagen gewann. Bei den legendären Ring-Schlachten mit Juan Manuel Fangio im Mercedes Silberpfeil sollen in den 50er-Jahren 300.000 bis 400.000 Menschen am Ring gewesen sein. Die Mixtur aus Öl, Auspuffgasen, verbranntem Gummi, Grillwürsten und Bier war ihr Parfüm, die Rennstrecke die Bühne für Heldensagen, Dramen und Tragödien. Fünf Formel-1-Fahrer verloren hier ihr Leben.

Die Zuschauer pilgerten zu ihren Lieblingsstellen, die es nirgendwo sonst gab: das rhythmische Kurvengeschlängel der „Hatzenbach“ bei Kilometer 2; der Sprunghügel am „Flugplatz“ bei Kilometer 4; die Bergabpassage der „Fuchsröhre“ bei Kilometer 6; die anspruchsvolle Rechtskurve beim „Bergwerk“ bei Kilometer 11; die überhöhte Haarnadelkurve am „Karussell“ bei Kilometer 14; noch eine Sprungschanze am „Brünnchen“ bei Kilometer 16; der schwierige „Schwalbenschwanz“ bei Kilometer 19; die Vollgaspassage am „Tiergarten“ bei Kilometer 22. Hier war es auch, wo der deutsche Radprofi Rudi Altig 1966 in der letzten von zwölf Runden wie aus dem Nichts an allen Konkurrenten vorbeiflog und Straßen-Weltmeister wurde.

Die Rennfahrer liebten und hassten das Kurvenlabyrinth. Der Belgier Jacky Ickx, der hier seine besten Leistungen abrief, sagte: „Am Nürburgring kann der Fahrer den Unterschied machen.“ Der dreimalige Weltmeister Jackie Stewart war jedes Mal froh, wenn er heil zurück an die Boxen fuhr: „Wer sagt, dass er diese Strecke liebt, der lügt.“ Für die Fahrer in ihren hochgezüchteten Rennmaschinen wurde das Asphaltband immer schmaler, je schneller sie über die Piste rasten. Statt breiter Auslaufzonen trennte nur eine Kette von Leitplanken die Piste von den Stämmen mächtiger Bäume. Jackie Stewart erinnert sich, wie er jedes Jahr erschrocken auf die Eifelwälder rund um die „grüne Hölle“ starrte: „Die Strecke hat sich nicht verändert, nur die Bäume sind dicker geworden ...“ Während Alberto Ascari 1950 im ersten Nachkriegs-Grand-Prix für 22,8 Kilometer noch 10:39 Minuten benötigte, wurde der Österreicher Niki Lauda 1975 mit 6:58,6 Minuten gestoppt – ein unglaubliches Durchschnittstempo von 196 km/h. Wie Lauda selbst sagte, „ein Wahnsinn“.

1984 wurde eine neue, kürzere Rennstrecke eröffnet

Die Nordschleife wurde von der Formel 1 bereits im Alter von 49 Jahren in den Ruhestand geschickt. Schon vor dem Unfall, bei dem Niki Lauda 1976 als amtierender Weltmeister beinahe sein Leben in einem Feuerball verlor, war das Ende des Rings für den modernen Grand-Prix-Sport beschlossene Sache. Die Berg-und-Tal-Bahn, fünfmal so lang wie andere Pisten, entsprach weder modernen Sicherheitsstandards noch dem kommerziellen Anspruch der Formel 1. Wenn nur alle sieben Minuten ein paar Fahrzeuge vorbeirasten, war das einfach zu wenig Show.

Die Rennfahrer, auch die modernen Gladiatoren des aktuellen Starterfeldes, bedauern das. Der dreimalige Weltmeister Lewis Hamilton durfte sich mit historischen Silberpfeilen an der Nordschleife versuchen. Er hat die überhöhte Kurve im Karussell dann auch gleich zu seiner Lieblingskurve erklärt. Ein Rennen auf dem alten Nürburgring wäre für den Briten „ein Traum“. Sein Rivale Sebastian Vettel bestätigt das: „Am liebsten würde ich die Nordschleife fahren. Aber leider sind unsere Autos dafür nicht gebaut und würden die Anforderungen der Strecke nicht aushalten.“ Der Mythos lässt sich kurz und knapp erklären: „Die Strecke ist so, wie sie schon immer war – und das macht sie auch heute noch aus.“

Am 12. Mai 1984 begann das zweite Leben des Nürburgrings mit der Eröffnung einer neuen Rennstrecke. 81 Millionen Mark wurden in das neue „Nationale Leistungszentrum für Motorsport“ auf dem Areal der ehemaligen Südschleife investiert. Resultat war eine Piste, die den modernsten Sicherheitsanforderungen entsprach, allerdings nur noch 4,494 Kilometer lang war (aktuell nach einigen Umbauten 5,148 Kilometer) und gerade mal 14 Kurven zu meistern hatte. „Den Deutschen ist hier etwas Einzigartiges gelungen“, sagte Niki Lauda zur Premiere.

Das Image des Nürburgrings sei nach wie vor allenfalls noch mit dem Stadtkurs von Monte Carlo zu vergleichen. Das Auftaktrennen mit Mercedes-190-Tourenwagen gewann ein aufstrebendes Talent aus Brasilien: Ayrton Senna. Der spätere Weltmeister, der 1994 bei einem Rennen in San Marino tödlich verunglückte, beherrschte die unwirtlichen Eifel-Bedingungen mit Regen, Wind und Kälte am besten.

Die berüchtigte Wetterküche der Region blieb dem Nürburgring treu. Schon immer gab es Hitzedramen bei 35 Grad und Regenschlachten mit Aquaplaning, aber auch das einzige Nebelrennen der Formel-1-Geschichte (1968), bei dem der Trainingsschnellste Graham Hill bei gerade mal 20 Meter Sicht nicht bemerkt haben will, „dass mich jemand überholt hat“.

Letzter Formel-1-Sieger in der Eifel war Sebastian Vettel

Der neue Nürburgring brachte die Formel 1 zurück in die Eifel. In der Ära Schumacher wurde der Große Preis von Europa oder Luxemburg als zweites deutsches Rennen neben dem Hockenheimring etabliert, um den deutschen Vollgasfans die letzte Mark und den letzten Euro abzuluchsen. Später wechselten sich die beiden Rennstrecken im jährlichen Turnus ab. Aber 2013 fiel nach 18 Grands Prix erneut der Vorhang für den Ring. Sebastian Vettel sah im Red Bull als letzter Nürburgring-Sieger die schwarz-weiß-karierte Zielflagge. Das Geschäftsgebaren von Formel-1-Impresario Bernie Ecclestone konnten sich die deutschen Automobilclubs und ihre Vermarkter nicht mehr leisten. Zumal sich die Nürburgring GmbH, die 2012 Insolvenz anmelden musste, und das Bundesland Rheinland-Pfalz mit einem Prestigeprojekt übernommen hatten: die Umwandlung des Nürburgrings in einen familienfreundlichen Freizeitpark. Der Bund der Steuerzahler sprach von einem „Paradebeispiel für Steuerverschwendung“, das Land blieb auf mehreren Hundert Millionen Euro Schulden sitzen. Derzeit hält ein russischer Unternehmer die Mehrheit an der Nürburgring-Holding.

Der Nürburgring als Formel-1-Standort ist Geschichte. Die Rennstrecke aber existiert weiter. Noch heute zelten Zehntausende auf den sanften Eifelhügeln, wenn die Tourenwagen beim 24-Stunden-Rennen um die Nürburg kreisen, wenn die Oldtimer cruisen oder die Trucks ihre Rennduelle austragen – und natürlich, wenn das Festival „Rock am Ring“ seine Dezibel aus Lautsprechern statt aus Motoren produziert. Im Kulthotel Wildes Schwein werden nach wie vor „Eifelburger“ und „Rennwurst“ serviert. Die Formel 1 mag gegangen sein, der Ursprung des Rennsports, der Kampf des Menschen mit der Maschine in der schwierigsten aller Prüfungen, ist geblieben.

Übrigens ist das Erlebnis Nürburgring nach wie vor jedermann zugänglich. Für 25 Euro an Wochentagen können Hobbyfahrer mit ihrem Privatfahrzeug durch Quiddelbacher Höhe, Schwedenkreuz und Kesselchen ihre Ideallinie suchen – aber immer im Einklang mit der Straßenverkehrsordnung. „Der Fahrzeugführer“, heißt es in den Regularien, „darf nur so schnell fahren, dass er sein Fahrzeug ständig beherrscht ...“

Lesetipp: Nürburgring-Kenner Hartmut Lehbrink erzählt in seinem Buch „90 Jahre Nürburgring“ die Geschichte der Nordschleife mit vielen Anekdoten und persönlicher Erinnerungen der berühmtesten Rennfahrer auf zwei und vier Rädern. Eindrucksvoll sind die historischen Fotos und Originaltexte von der Eröffnung der Piste im Juni 1927. Hartmut Lehbrink: 90 Jahre Nürburgring – die Geschichte der Nordschleife. 240 Seiten, 49,90 Euro. Delius Klasing Verlag.