Frankfurt/M. Der Bundestrainer steht vor dem ungewöhnlichsten Turnier seiner Amtszeit. Die ständige Rotation birgt auch Risiken

Nehmen wir an, Joachim Löw sei abergläubisch. Dann müsste der Bundestrainer alles daransetzen, in den kommenden zweieinhalb Wochen erfolglos zu bleiben. Auf keinen Fall dürfte Löw mit der deutschen Nationalelf beim Confederations Cup in Russland, zu dem die Mannschaft am Donnerstag aufbricht, den Titel gewinnen.

Denn es ist so, dass jenem Probelauf vor der WM ein Fluch anhaftet: Nie ist es einer Nation gelungen, nach der Mini-WM auch die echte im Jahr darauf zu gewinnen. Weder Brasilien, das 1997, 2005, 2009 und 2013 beim Confed-Cup triumphierte, noch Frankreich 2001.

Aber Löw ist nicht besonders abergläubisch. Übersinnliches ist auch nicht der Grund, warum er auf seine Besten verzichtet und einen Kader aus Perspektiv- sowie Gelegenheitsnationalspielern berufen hat. Der 57-Jährige plant in Russland einen bisher in seiner Amtszeit nie da gewesenen Laborversuch.

Dieser geht über die ungewöhnliche Spielerauswahl hinaus und birgt wie jedes gute Experiment das Risiko, dass die ganze Sache nach hinten losgeht.

Hatte Löw bisher bei jedem Turnier eine mehr oder weniger ausgeprägte Kernmannschaft, die sich im Verlauf zunehmend mehr einspielen konnte und je nach Gegner nur noch ergänzt wurde, wird es in Russland eine ständige Rotation geben: „Ich werde allen Spielern viel Einsatzzeit zugestehen. Wir werden nicht immer mit der gleichen Mannschaft auflaufen“, kündigte der Bundestrainer an.

So ist denkbar, dass gegen Aus­tralien zum Auftakt am Montag in Sotschi (17 Uhr MESZ) der wuchtige Sandro Wagner stürmen wird und drei Tage später gegen die taktisch versierten Chilenen in Kasan der flinke Timo Werner. Es sind zudem Systemänderungen zu erwarten: von der Viererkette bis zur Fünferkette in der Defensive mit schnellen Außenspielern und zwei Angreifern, wie es die TSG Hoffenheim in der abgelaufenen Bundesligasaison erfolgreich praktiziert hat – der Club, der mit vier Spielern den größten Block in der Confed-Cup-Delega­tion stellt.

„Es wird verschiedene Systeme und verschiedene Aufstellungen geben, damit wir so viel wie möglich über die Spieler lernen, sonst bekommen wir nicht den Effekt, den wir wollen“, sagte Löws Assistent Marcus Sorg am Mittwoch. Aus den 21 verbliebenen Spielern wird Löw zu jeder Partie ein neues Gemisch anrühren. Aus „die Mannschaft“ werden „die Mannschaften“. 21 Freunde müsst ihr sein.

Es ist eine Probebohrung, die Löw da vornimmt. Und er hofft, dass sich so zwei bis vier Verstärkungen für den WM-Kader 2018 zutage fördern lassen. „Nach diesen Wochen werden wir feststellen können, welcher junge Spieler die Gabe hat, die Verantwortung zu übernehmen“, sagt Löw. Besonders an den Abwehrbrocken Niklas Süle ist zu denken, aber auch an die Offensivkräfte Leon Goretzka oder Werner. Spieler wie Jonas Hector, Joshua Kimmich und Kapitän Julian Draxler sind längst für 2018 eingeplant.

Doch natürlich birgt der russische Laborversuch auch das Risiko, dass er schnell beendet wird und Löw wieder heimfährt. Mit Australien, Chile und Kamerun warten eingespielte Truppen, die ihre Stars wie Arturo Vidal und Alexis Sanchez dabeihaben. Löw geht das Risiko ein. Die Erkenntnisse sind für ihn wertvoller als der Titel.

Was den Erkenntnisgewinn angeht, ist der Confed-Cup ohnehin nicht zu verachten. Das hat Löw gelernt, als sein Team nicht einmal dabei war. 2013 schickte er seinen Chefscout Urs Siegenthaler nach Brasilien, und der Schweizer sendete nach Beendigung des Turniers eine wegweisende SMS an den Bundestrainer: „Wir sind aufgefordert, mit der Zeit zu gehen und die Idee zur Seite zu legen“, schrieb Siegen-thaler.

Löw, der das schöne Spiel bis dahin über alles stellte, trat danach bei der WM 2014 als großer Pragmatiker auf, beorderte vier gelernte Innenverteidiger als „Ochsenspieß“ in die Abwehr und setzte entgegen seinen Gepflogenheiten auf Standardsituationen. Siegenthaler hatte beim Confed-Cup ein Jahr zuvor erlebt, dass die Hitze Brasiliens zu derartigen Maßnahmen Anlass gibt. Deutschland wurde mit Benedikt Höwedes als Linksverteidiger Weltmeister und erzielte pro Spiel 0,71 Tore nach ruhenden Bällen.

Gemeinsamer Abend mit dem A-Team und der U 21

Diesmal kann sich Löw selbst von den Bedingungen im WM-Land überzeugen. Es ist ein großes Experiment mit offenem Ausgang. Löws Labor hat zudem noch eine Außenstelle: Vor der Abreise gab es einen gemeinsamen Mannschaftsabend der A-Nationalmannschaft mit der U-21-Auswahl, die am Mittwoch nach Krakau zur EM (16.–30. Juni) aufgebrochen ist.

Hier kam zusammen, was zusammengehört. In Polen sollen sich Spieler beweisen, die wie Serge Gnabry ebenfalls noch Chancen haben, in Russland 2018 dabei zu sein.