Hamburg. Neue Serie “Schluss mit dem Abstiegskampf“: Wie ein Streit den HSV entzweite. War es der Anfang des Niedergangs? Teil 1.

Bernd Hoffmann saß in der Badewanne, als die Welt des HSV unterging. Es war kurz vor 23 Uhr, als Hoffmanns Mobiltelefon klingelte und Aufsichtsrat Jörg Debatin dem Vorstandsvorsitzenden das sagte, was sich bereits seit einer guten Woche angedeutet hatte: Die HSV-Kon­trolleure, die anderthalb Stunden lang im Nobelrestaurant Die Insel an der Alster getagt hatten und eine Lösung für den Führungsstreit zwischen Hoffmann und Sportvorstand Dietmar Beiersdorfer suchen wollten, hatten sich entschieden. „Herr Debatin hat mich angerufen und mich über die Aufsichtsratsentscheidung gegen Didi benach­richtigt“, sagt Hoffmann heute. Und fügt hinzu: „Trotzdem war mein Gefühl des Abends nicht gut.“

Knapp acht Jahre nach dem folgenreichen Abend des 23. Juni 2009 sitzt Bernd Hoffmann im Café TH2 in der Isestraße und bestellt sich einen Pfefferminztee. Es ist 9.30 Uhr, aber Hoffmann hat bereits gefrühstückt. Der 54 Jahre alte Ex-Chef des HSV beginnt das Gespräch mit einem Lächeln. „Und? Was macht der HSV?“, fragt der frühere Vorstandsvorsitzende, der zwei Jahre nach dem sogenannten HSV-Urknall selbst gehen musste.

Chefs stritten über das Saisonfazit

Wie geht es dem HSV? Diese Frage war in den vergangenen sechs Jahren, in den Post-Hoffmann-Jahren, meist schnell beantwortet: schlecht. In fünf von sechs Spielzeiten kämpfte der HSV bis zum Schluss um den Klassenerhalt, zweimal musste der Club sogar in die Relegation. Doch warum muss der HSV, der in dieser Zeit mehrfach den Total-Umbruch wagte, nahezu jedes Jahr aufs Neue bis zuletzt um die Klasse zittern? Die Antwort, da sind sich viele HSV-Beobachter einig, ist in den Tagen rund um den 22. und 23. Juni 2009 zu finden. Die Hamburger hatten gerade ihre erfolgreichste Saison seit 1983 hinter sich, standen im Uefa-Cup und im DFB-Pokal im Halbfinale und schlossen die Saison auf Platz fünf ab. Doch anstatt sich über das Erreichte zu freuen, ließen sich die Verantwortlichen auf einen erbitterten Führungsstreit ein, nach dem nichts mehr so war wie zuvor.

„Der Streit zwischen Bernd Hoffmann und Dietmar Beiersdorfer hatte sich schon über eine längere Zeit aufgestaut“, erinnert sich Horst Becker, der damalige Aufsichtsratschef. „Bernd Hoffmann war vom Charakter her sehr forsch, Didi bekanntermaßen eher in sich gekehrt.“ Die Geschehnisse von damals sind zwar bereits acht Jahre her, doch Becker kann sich im Abendblatt-Gespräch noch ganz genau erinnern: Mitte Juni, einen Tag vor seiner geplanten Reise mit der Queen Mary von Southampton nach New York, habe er einen Anruf von Beiersdorfer bekommen. „Es geht nicht mehr, ich will aufhören“, soll der Sportchef dem Aufsichtsratschef am Telefon gesagt haben. Das wollte Becker so nicht akzeptieren. Der Kontrollchef bat um ein persönliches Gespräch, um Beiersdorfer doch noch umzustimmen. Noch am gleichen Abend trafen sich die beiden und sprachen mehr als zwei Stunden bei einer Portion Bratkartoffeln über Möglichkeiten, noch eine zukunftsträchtige Lösung zu finden. Vergeblich.

„Keine Basis für vertrauensvolle Zusammenarbeit“

Über die Gründe für Beiersdorfers Entschlossenheit, die Hoffmann kurioserweise sonst immer vermisste, wurde seitdem viel und oft gesprochen. „Ich habe keine Basis mehr für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gesehen, um einen Club wie den HSV zu führen“, erklärte Beiersdorfer sein Vorgehen seinerzeit. „Deswegen habe ich den Aufsichtsrat um eine klare Entscheidung gebeten.“ Und um eine Regelung für die Abfindung, die trotz Beiersdorfers Wunsch auf Vertragsauflösung eine Million Euro betragen haben soll. „Ich musste dafür Kritik einstecken, aber ich fand es damals angemessen“, sagt Becker noch heute. „Didi hatte sich um den HSV verdient gemacht.“

Doch vor der endgültigen Abfindungseinigung und der von Beiersdorfer geforderten klaren Entscheidung wurde hinter den Kulissen noch einmal zwei Tage lang um eine alternative Lösung gerungen. Becker, der trotz der Krise seine geplante Kreuzfahrt angetreten hatte, hatte zunächst seine Stellvertreter Otto Rieckhoff und Alexander Otto informiert, ehe er für den 22. Juni, den Tag seiner Rückkehr, abends einen Krisengipfel im Haus von Alexander Otto einberief. „Das war der entscheidende Tag“, erinnert sich Hoffmann.

In Poppenbüttel in der Casa Otto empfing der Gastgeber die Aufsichtsräte Becker, Rieckhoff und Bernd Enge zusammen mit den Vorstands-Streithähnen Hoffmann und Beiersdorfer. Es gab Gespräche mit allen zusammen, aber auch weiterführende Diskussionen in Kleingruppen. Als die Räte allein im Wohnzimmer tagten, soll Hoffmann Beiersdorfer im Nebenraum ein letztes Mal gefragt haben, ob man es nicht doch noch mal zusammen versuchen wolle.

Hoffmann gesteht Versäumnis ein

Man wollte nicht. „Das Gespräch war in vernünftiger Atmosphäre. Jeder hat versucht, Didi zu bekehren, aber er hatte sich festgelegt“, erinnert sich Becker. „Auch ein längeres Gespräch zwischen Bernd Hoffmann und Dietmar Beiersdorfer brachte nichts mehr. Es war sinnlos.“ Und trotzdem verließen Hoffmann und Beiersdorfer um 23.11 Uhr gemeinsam Ottos Villa. „Als Didi und ich gemeinsam im Auto nach Hause fahren wollten, wurden wir prompt von einem Paparazzo fotografiert“, sagt Hoffmann. Es war ihr letztes gemeinsames HSV-Foto.

Hoffmann hat seinen Tee im TH2 ausgetrunken. Doch mit den Geschehnissen aus dem Sommer 2009 hat er noch immer nicht abgeschlossen. „Der Hauptgrund für die Eskalation war, dass bei allen Beteiligten nach den Werder-Wochen die Nerven blank lagen: bei Trainer Martin Jol, bei Didi und bei mir.“

Viermal musste der HSV innerhalb von nur 18 Tagen im Saisonendspurt gegen den Nordkonkurrenten antreten. Und das Ende der Werder-Geschichte ist hinlänglich bekannt: Aus im DFB-Pokal-Halbfinale, Aus im Uefa-Cup-Halbfinale und Aus im Kampf um die Qualifikation zur Champions League. „Es war die erfolgreichste Saison seit 1983 – und wir diskutierten darüber, was da eigentlich schiefgelaufen ist. Das war sicherlich auch ein Versäumnis von mir“, gesteht Hoffmann acht Jahre später selbstkritisch ein. „Vielleicht hätte es auch gereicht, wenn wir einfach mal einen Kurzurlaub gemacht hätten. Haben wir aber nicht. Auch ein wenig Moderation durch den Aufsichtsrat hätte sicherlich gutgetan.“

Dissens bei Scouting und Nachwuchs

Der HSV ging baden – und der mögliche Aufsichtsratsmoderator war auf hoher See in Richtung New York unterwegs. „Während meiner Abwesenheit ist alles hochgekocht und an die Öffentlichkeit gekommen“, erinnert sich Becker, der dem erfolgreichen Macher-Duo Hoffmann/Beiersdorfer noch heute sehr nachtrauert: „Die beiden passten eigentlich perfekt zusammen. Bernd Hoffmann gab den Bad Guy. Didi Beiersdorfer war der Good Guy mit den Kontakten zu den Spielern.“

Doch genau über diese Rollenverteilung waren sich der Good und der Bad Guy keineswegs einig. „In den letzten zwei Jahren, dem letzten halben Jahr im Speziellen, schienen sich die Kompetenzbereiche für Bernd Hoffmann zu verwischen“, erklärte Beiersdorfer im Abendblatt das Zerwürfnis des einstigen Erfolgsduos. „Die Kompetenzüberschreitungen hatten schon System.“

Mit etwas Abstand (und der Gewissheit, dass der HSV nie wieder so erfolgreich wie in jener Zeit wurde) gibt Hoffmann im Hier und Jetzt zu, dass er mit bestimmten Dingen aus Beiersdorfers Kompetenzbereich damals nicht einverstanden war. Beiersdorfer selbst wollte auf Nachfrage dazu nicht noch einmal im Detail Stellung beziehen. „Wir hatten einen Dissens bei den Themen Scouting und Nachwuchs“, sagt Hoffmann und bestellt sich noch einen zweiten Tee.

Debatins düstere Prognose

„Wir waren gemeinsam seit sechs Jahren im Amt, haben gemeinsam jedes Jahr fünf bis sechs Millionen Euro in den Nachwuchs investiert – und am Ende dieser sechs Jahre hatten in der Saison 2008/09 vom HSV ausgebildete Spieler elf Minuten gespielt.“ Gemeint ist Tunay Torun, der heute in der Türkei sein Geld verdient. Hoffmann nimmt einen weiteren Schluck. „Ich dachte mir, das kann doch nicht sein. Ich wollte dann wissen, was wir da besser machen können. Das Problem war, dass Didi nach den Werder-Wochen genauso über den Punkt war wie ich.“

Statt irgendetwas besser zu machen, wurde alles nur noch schlimmer. Einen Tag nach der Elefantenrunde in Poppenbüttel traf sich der Aufsichtsrat erneut zu einem letzten und entscheidenden Krisengipfel an der Alster. Um 23.07 Uhr verkündete Becker den wartenden Journalisten, dass der Aufsichtsrat einvernehmlich beschlossen hatte, der Auflösung des bis Dezember 2010 laufenden Vertrages von Beiersdorfer – samt Abfindung von rund einer Million Euro – zuzustimmen. „Wir bedauern den Schritt sehr“, sagte Becker, der kurz zuvor Beiersdorfer persönlich das Ergebnis am Telefon mitteilte. „Ich wusste, was mir gesagt wird, als ich den Namen unseres Aufsichtsratsvorsitzenden Horst Becker auf meinem Handy-Display sah“, erinnert sich Beiersdorfer an den Abend der Entscheidungen am 23. Juni 2009.

Wer nun aber glaubte, dass Beiersdorfer der Verlierer und Hoffmann der Gewinner des Abends war, der irrte. An diesem Abend gab es nur einen einzigen großen Verlierer: den HSV. „Herr Debatin hat mir am Telefon schon prognostiziert, dass es nun auch eng für mich werden würde“, erinnert sich Hoffmann. Und Debatin sollte recht behalten.

Mehr Sportchef-Absagen als Punkte

Zwar gelang dem HSV auch im Jahr darauf noch einmal ein internationales Halbfinale, doch ohne einen geeigneten Beiersdorfer-Nachfolger ging es fortan abwärts. „Meine Fehleinschätzung war, dass ich glaubte, man könne den HSV zunächst einmal ohne ausgewiesenen Sportchef führen. Das glaubte unser neuer Trainer Bruno Labbadia leider auch, und der Aufsichtsrat kam bei seinem eigenen Auswahlprozess ebenfalls nicht zu einem Ergebnis“, sagt Hoffmann, für den im März 2011 wegen einer fehlenden Aufsichtsratsstimme Schluss war. „Leider führte mein Wunsch, einen ganz besonders perfekten Sportchef zu finden, zu einer zu langen Vakanz auf dieser Position. Das führte zu inhaltlichen Versäumnissen und trug zu meiner Demontage bei, da ich als Vorstandsvorsitzender für jeden gefühlten sportlichen Rückschlag verantwortlich gemacht wurde. Selbst, wenn es sich dabei um das Ausscheiden aus einem Europa-League-Halbfinale handelte …“

Der Rest der Geschichte ist bekannt. Bastian Reinhardt wurde kurzzeitig vom Praktikanten zum Sportchef befördert, musste dann aber bald wieder gehen. Urs Siegenthaler hatte schon zugesagt, sagte aber fünf Tage vor seinem offiziellen Dienstantritt nach Kritik an seiner DFB-Doppelfunktion wieder ab. Und auch Matthias Sammer gab sein Ja-Wort, um drei Tage später laut, deutlich und öffentlich abzusagen. Der HSV sprach fortan mit mehr Sportchefkandidaten, als die Mannschaft Punkte sammelte. Und Beiersdorfer? Beobachtete das Treiben als interessierter Zuschauer, ehe er im Sommer 2014 noch einmal eine Rückkehr auf das spiegelglatte HSV-Parkett wagte. „Dieser Verein verschiebt sich immer mehr in Richtung einer Person“, sagte Beiersdorfer seinerzeit, ehe Ähnliches dem Hoffmann-Nach-Nachfolger im vergangenen Winter selbst vorgeworfen wurde. Sein Fazit nach seinem ersten Aus: „Dem HSV geht die Seele verloren.“

Acht Jahre später ist Hoffmann seinem einstigen Kollegen und gleichzeitigen Kontrahenten nicht mehr böse. „Es stimmt nicht, dass wir persönlich nicht miteinander konnten. Didi war einfach ausgebrannt, die ganze Saison hat ihn fertiggemacht. Und mir ging es nicht anders.“ 14 Trainer, fünf Sportchefs und inklusive Beiersdorfer selbst drei Clubchefs später ist sich Hoffmann sicher, dass der HSV-Urknall seinerzeit und der folgende Niedergang zu verhindern gewesen wären: „Es hätte niemals eskalieren dürfen“, sagt Hoffmann. „Mit einem tauglichen Paartherapeuten wären wir heute wahrscheinlich noch immer gemeinsam im Amt.“

Dietmar Beiersdorferhatte gleich drei HSV-Leben: als Spieler (1986 bis 1992), als Sportchef (2002 bis 2009) und als Clubchef (2014 bis 2016). Seine erfolgreichste Zeit war als Manager, nachdem Hoffmann als Vorstandschef ab dem 1.2. 2003 das Erfolgsduo komplementierte.

Bernd Hoffmann und Beiersdorfer waren sieben Jahre lang gemeinsam im Amt und qualifizierten sich siebenmal für einen internationalen Wettbewerb. Nach Beiersdorfers Demission im Sommer 2009 sollte sich der HSV nie wieder für einen europäischen Wettbewerb qualifizieren.

Hoffmanns Zeit endete zwei Jahre später, als sich der neu gewählte Aufsichtsrat zwar mit 7:5 Stimmen für eine Vertragsverlängerung aussprach, damit aber eine Stimme für die laut Satzung geforderte Dreiviertelmehrheit fehlte. Ab März 2011 wurde Carl Jarchow Hoffmanns Nachfolger.