Hamburg. Die Formation „Tybas Holy Grail“ aus Hamburg verteidigt kommende Woche den Titel . Dabei geht es um Sport – und ein Lebensgefühl.

Er könnte auch Männermode präsentieren: dunkler Bartschatten, die Kappe verkehrt herum auf dem Kopf, legere schwarze Jacke, die ebenfalls schwarze Hose hat oberhalb der Knie Reißverschlüsse. Sie sind geöffnet. Es ist warm an diesem Frühlingssonntag im Norden. Mutmaßlich sind sie meistens unverschlossen. Urban Style eben.

Cansin Günay (26) ist Dozent im Tybas Dance Center. Die Tanzschule liegt im szenigen Gängeviertel, und schon beim Betreten ist klar: Hier wird nicht Rumba oder Wiener Walzer geübt, hier sind Hip-Hop, Dancehall und Jazzfunk zu Hause. Die Lust darauf ist der Kundschaft an der Kleidung anzusehen. Adidas und Nike, Sneaker, Hoodys, ein bisschen Tüll, bauchnabelfrei und viel schwarz dominieren. In den Umkleideräumen stehen Skateboards, auf dem Tisch im Eingang hat jemand ein Tablett mit Kuchenstücken hingestellt. Auf dem Zettel daneben steht lapidar: „Essen!“

Individuelle Tanzqualitäten

In diese Momentaufnahme passt auch René Buckbesch (22), Kinnbart, Beanie-Wollmütze, Cordröhre und Muscleshirt. Zusammen mit Günsay leitet er die HipHop-Tanzformation „Tybas Holy Grail“. Der Name Heiliger Gral assoziiert Mystik, und genau das ist von den Choreographen gewollt. „Was kommt auf uns zu? Das Versteckte entdecken. Lehre empfangen“, sagt Günsay. „Wir finden, es ist ein tolles Symbol für gegenseitigen Austausch.“ Es gilt, individuell ausgeprägte Tanz- und Darstellungsqualitäten fürs große Ganze zu harmonisieren, weiterzuentwickeln oder auch zu pointieren.

Offenbar haben die beiden Coaches neben dem Gespür für die passende Choreographie auch pädagogisches Geschick. Nur ein Jahr nach der Gründung wurde „Tybas Holy Grail“ nach diversen vorderen Plätzen bei Wettbewerben 2016 schon deutscher Meister in der Hip-Hop-Serie des deutschen Tanzlehrer Verbandes DTHO. Nächste Woche Freitag wollen die Hamburger in Hannover ihren Titel verteidigen.

Mehr üben!

„Nun macht mal hinne“, ruft Günsay gut gelaunt in den hellen Probenraum, in dem sich 27 Tänzerinnen und drei Tänzer versammelt haben. Warm getanzt haben sie sich allein. Nun geht es ans Feintuning für das große Ziel. Noch sitzt nicht jedes Bild und jede Bewegung so, wie es sich die Dozenten wünschen, weshalb die Übungsintensität verschärft wurde. „Wir treffen uns zurzeit auch sonnabends“, sagt René Buckbesch, der für die vier Stunden Training an diesem Sonntag die Mütze abgesetzt hat. „Anders ist es nicht zu schaffen.“

Richtig ernst nimmt den Ansager und Vortänzer Günsay derweil vor der Spiegelwand noch niemand. Es wird geschwätzt und gelacht, einige Frauen laufen noch mal schnell zur Toilette. Hier ein Zupfer am Trikot, dort ein letztes Festzurren des Haarzopfes, dann dreht Buckbesch am Regler der Musikanlage – und Ruhe ist, trotz wummernder Bässe. Jeder steht an seinem Platz, nimmt die verabredete Pose ein, und dann zeigt die Gruppe für die Besucher im Schnelldurchgang eine kleine Auswahl ihres Könnens. Ohne wirklich Ahnung von der Materie zu haben, lautet die laienhafte, aber einhellige Spontanbeurteilung von Fotograf und Schreiberin: ziemlich präzise, mitreißend, beeindruckend.

"Es ist cool"

Lara (22) steht im Showbild ziemlich weit hinten auf der rechten Seite. Die angehende Sonderschullehrerin tanzt seit zehn Jahren und ist im Dezember zum Tybas Dance Center gestoßen. „Ich kenne René aus einem Kurs in einer anderen Gruppe“, erzählt sie. „Er hat mich gefragt, ob ich mitmachen will, und natürlich habe ich zugesagt. Was wir hier machen, entspricht total meinem Lebensgefühl. Es ist cool.“

Anders als Cansin Günay, der parallel zu seiner genehmigten Nebentätigkeit als Tanzdozent eine duale Ausbildung bei der Deutschen Bank macht, lebt Busckbesch zurzeit noch allein vom Lehren und von eigenen Auftritten. Er lässt sich für getanzte Modeschauen oder bei Frisurenmessen buchen. Gut für die Karteikarte bei den Booking-Agenturen sind allerdings Auftritte als Backgroundtänzer. Beispielsweise für die Sängerin Stefanie Heinzmann, auch Moderatorin Barbara Schöneberger oder Kollegin Michelle Hunziker haben schon auf seine Dienste zurückgegriffen. Und auch bei „DSDS“, „Das Supertalent“ und anderen TV-Formaten war er dabei. „Man muss wissen, es ist eine Kunstwelt“, sagt der Sohn eines Bundeswehroffiziers und bestätigt mit dieser Aussage, was er im Gespräch ausstrahlt: Bodenständigkeit und Selbstgewissheit.

Mit 35 ist Schluss für Tänzer

„Tänzer sind Beiwerk“, ergänzt Günsay, den man sich auch im Businessanzug und als seriöser Berater vorstellen kann. So manches Kostüm, das die Backgroundtänzer anziehen müssen, ist allerdings zum Fremdschämen. Aber für die Leidenschaft, das Tanzen, und weil die Miete bezahlt werden muss, gehen Kommerz und Kunst in der Branche Hand in Hand. Zumal der Zeitraum der Selbstverwirklichung überschaubar ist. „Mit 35 ist für die meisten Schluss als Tänzer“, sagt Buckbesch, der schon als kleiner Junge im Ballett war. Als er elf Jahre alt war, rieten ihm die Eltern, doch mal anderen Sport auszuprobieren. „Ich habe von Fußball bis Judo und Karate alles versucht“, sagt er. „Aber nach einem Jahr habe ich gesagt, ich will nur tanzen.“ Er kann sich vorstellen, später Meeresbiologie zu studieren. Mit langfristiger Perspektive. Denn eingeschrieben im Fach Sozialökonomie war er nach dem Abitur schon, bis er das Tanzen doch zum Beruf machen wollte.

Auch Cansin Günay hat reichlich Bühnenerfahrung. Der gebürtige Hannoveraner mit türkischen Wurzeln war schon deutscher Meister im internationalen Videoclip-Dancing, er arbeitete in Köln und Berlin in verschiedenen Tanzstudios, und auch er wurde von TV-Sendern und sogar vom FC Bayern München für Shows gebucht. Dass er unbedingt Tänzer werden wollte, erregte in seiner Familie ebenfalls niemanden. Die Mutter war in ihrer Heimat eine bekannte Volks- und Bauchtänzerin, „und bei uns sind durch Heiraten sowieso alle möglichen Religionen, Mentalitäten und Ethnien vertreten. Sie müssten mal unsere Weihnachts- und Geburtstagsfeiern sehen. Da geht die Post ab“, erzählt er.

Pause!

Inzwischen ist die Luft im Tanzsaal angereichert mit Ausdünstungen. Jemand reißt die Fenster auf. Pause. Buckbesch wandert mit dem Notizzettel durch den Raum, gibt Korrekturen. „Versuch es mal so“, sagt er, legt das Blatt Papier zur Seite und zeigt mal eben, was er meint. Ein kurzer Moment der Konzentration, Körperspannung, dann die fließende Bewegung – Buckbesch und Günsay, das zeigen auch die mitgetanzten Passagen, sind Profis und Perfektionisten.
Insgesamt machen nur wenige Männer mit in der Formation. Jungs machen so was nicht? Stichwort Mobbing? „Alles eine Frage des Selbstbewusstseins“, sagt Buckbesch.Tanzen macht auch Muskeln. Das kann man sehen.