Hamburg. Michael Stich und Thomas Chiandone erklären, warum die Aktion „Tennis for free“ für die Zukunft ihres Sports in Deutschland so wichtig ist

85 Vereine aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Berlin und Hamburg beteiligen sich in diesem Jahr an der Aktion „Tennis for free“, mit der die Alexander-Otto-Sportstiftung und die Agentur HSE, mit der Michael Stich das Herrenturnier am Rothenbaum organisiert, Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 16 Jahren kostenlos an den Tennissport heranführen wollen. Stich (48) lädt an diesem Sonntag (11 Uhr) zum Schnuppertraining auf die Anlage des Uhlenhorster HC am Wesselblek – und spricht im Abendblatt-Interview gemeinsam mit Thomas Chiandone (50), Geschäftsführer der Tennisverbände Hamburgs und Schleswig-Holsteins, über Talententwicklung und die soziale Verantwortung des Sports.

Die Zahlen jugendlicher Mitglieder in Tennisclubs steigen, manch ein Verein muss Aufnahmestopps verhängen, um dem Ansturm Herr zu werden. Warum braucht es dennoch eine Aktion wie Tennis for free?

Thomas Chiandone: Weil es in Sportvereinen generell und deshalb auch beim Tennis die Tendenz gibt, dass insgesamt weniger Menschen organisiert Sport treiben. Und es ist auch kein Geheimnis, dass viele Tennisvereine überaltern. Deshalb müssen wir uns verstärkt um den Nachwuchs bemühen.

Michael Stich: Es geht uns mit der Aktion vor allem darum, jungen Menschen aufzuzeigen, wie wichtig Sport ist, und ihnen die Chance zu geben, sich auszuprobieren und ihre Talente herauszufinden. Tennis fördert nicht nur die Motorik und Beweglichkeit, sondern auch die sozialen Fähigkeiten, denn es geht immer um Gewinnen und Verlieren und darum, dass man lernen muss auszuhalten, dass ein anderer besser ist als man selbst. Das ist eine Schule für das Leben. Außerdem ist Tennis eine von wenigen Sportarten, die man bis ins hohe Alter und mit der ganzen Familie betreiben kann. Diese Aspekte wollen wir denen näherbringen, die bislang keine Möglichkeit hatten, mit dem Tennis in Berührung zu kommen.

Tennis for free richtet sich vor allem auch an Jugendliche aus sozial schwächeren Strukturen, die in Tennisvereinen unterrepräsentiert sind. Woran liegt das, und wie kann man das nachhaltig verändern?

Chiandone: Mein Eindruck ist, dass Tennis im Vergleich zu vielen anderen Sportarten deutlich teurer ist. Deshalb gehen Jugendliche aus sozial benachteiligten Umfeldern eher zum Fußball oder zum Kampfsport.

Stich: Natürlich sind die Kosten für manche ein Problem. Man darf aber auch nicht vergessen, dass Tennisvereine durch die Instandhaltung ihrer Plätze hohe Kosten decken müssen. Und wo sonst ist es möglich, dass man den ganzen Tag über einen Platz hat, auf dem man spielen kann? Tennisvereine bieten das, und dank des neuen Leistungsklassensystems findet man auch überall schnell einen Partner. Das gibt es in nicht vielen Sportarten, und das müssen wir deutlicher herausstreichen.

Dennoch hat man das Gefühl, dass das Tennis durch seine noch immer etwas elitär wirkende Ausrichtung viele Talente verpasst, beispielsweise im Bereich der Menschen mit Migrationshintergrund. Bereitet Ihnen das Sorge?

Chiandone: Auch wenn ich überzeugt davon bin, dass Tennis längst nicht mehr so elitär ist wie vielleicht vor 30 Jahren noch, sorgen wir uns natürlich darum, dass wir Talente verpassen könnten. Deshalb sind solche Aktionen wie Tennis for free wichtig, denn je mehr Jugendliche wir für unseren Sport gewinnen können, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass da ein paar Gute dabei sind.

Stich: Migrantenkinder in Deutschland haben den Nachteil, dass sie und ihre Eltern in ihren Heimatländern oft nicht mit Tennis in Berührung gekommen sind. Ihnen fehlen Helden, Vorbilder. Deshalb ist Tennis überhaupt nicht auf ihrem Radar, Kampfsport oder Fußball liegen ihnen näher. Das wollen wir mit Tennis for free auch verändern. Aber das geht nicht von heute auf morgen.

Chiandone: Es geht ja auch nicht nur um Migrantenkinder. Generell ist es heute schwieriger, Kinder und Eltern für Leistungssport zu begeistern, da man in Deutschland in vielen Sportarten von Leistung nicht leben kann. Im Tennis mag das, wenn man es nach ganz oben schafft, anders sein. Aber die Gruppe derer, die bereit sind, sich für ihren Sport aufzuopfern, die wird kleiner. Heute ist es doch so, dass Kinder einmal die Woche zum Training gefahren und danach wieder eingesammelt werden. Sie und ihre Eltern nehmen am Clubleben nicht mehr teil. Das ist schade, auch daran müssen wir arbeiten.

Stich: Die Bereitschaft, sich zu quälen, hat nachgelassen, das ist keine Frage. Mich erschreckt die Teilnahmslosigkeit vieler Eltern, die nicht einmal mehr die Zeit aufbringen, ihren Kindern beim Wettkampf zuzuschauen. Dazu kommt, dass Tennis zwar recht einfache Regeln hat, aber kompliziert zu erlernen ist. Die Erfolgserlebnisse stellen sich nicht sofort ein, man braucht Geduld und Beharrlichkeit. Aber wenn es uns über unsere Aktion gelingt, überhaupt erst einmal Interesse zu wecken, indem wir den Kindern vermitteln, dass wir uns um sie kümmern und sie ernst nehmen, dann wäre das ein wichtiger Schritt.

Tennis kämpft ja nicht nur gegen andere Sportarten um Mitglieder, sondern – wie der Sport insgesamt – vor allem gegen die vielen anderen Freizeitmöglichkeiten, die in Deutschland geboten werden. Medienkonsum ist der größte Feind der Bewegung. Ihr Slogan lautet „Weg von der Spielkonsole, rauf auf den Tennisplatz“. Erreicht man damit heutzutage junge Menschen?

Stich: Unser Ziel muss sein, den Jugendlichen zu vermitteln, dass Tennis auf dem Platz mehr Spaß macht als an der Konsole. Leider haben wir den Zeitpunkt zur Entwicklung in den vergangenen Jahren verpasst. Letztens war ich in meinem Heimatverein in Elmshorn im Clubhaus und war überrascht, dass es dort noch immer so aussieht wie vor 40 Jahren. Früher waren Clubhäuser Orte der Begegnung. Heute lockt man mit dem Charme der 70er-Jahre keine jungen Menschen mehr an.

Vielmehr muss man die neuen Medien nutzen, um Jugendliche zu erreichen. Tennis ist aus dem klassischen Fernsehen fast verschwunden. Welche Wege nutzen Sie, um trotzdem wahrgenommen zu werden?

Chiandone: Ich bedaure zwar, dass Tennis kaum noch im Fernsehen läuft, aber da Jugendliche das sowieso immer weniger nutzen, ist das gar nicht so tragisch. Wir sind bei Facebook sehr aktiv und nutzen Liveticker und Livestreams, um am Ball zu bleiben. Mein Eindruck ist: Tennis wird wieder beliebter, der Rückgang ist gestoppt und das Tal durchschritten. Dennoch müssen wir weiter hart daran arbeiten, die Lücken zu finden, um an Nachwuchs heranzukommen. Tennis for free hilft uns dabei.