Hamburg. Eine Analyse, warum sich der sichere Abstiegskandidat vorzeitig den Klassenerhalt erkämpfte und erspielte

Als am Sonntag um 15.21 Uhr Schiedsrichter Benjamin Cortus das Spiel zwischen dem VfL Bochum und Arminia Bielefeld abpfiff, waren für den FC St. Pauli auch die allerletzten Zweifel beseitigt. Das 1:1 in Bochum hatte zur Folge, dass nach dem längst abgestiegenen Karlsruher SC und den Würzburger Kickers (1:1 in Düsseldorf) nun auch Arminia Bielefeld keine Chance mehr hat, St. Pauli in der Tabelle der Zweiten Liga an den verbleibenden zwei Spieltagen noch zu überholen. Anders ausgedrückt: Der Klassenverbleib der Kiezkicker, die am Freitagabend ihren 2:1-Sieg beim 1. FC Kaiserslautern schon entsprechend gefeiert hatten, ist zu 100 Prozent sicher.

Diesen vorzeitig feststehenden Erfolg hatte noch in der Winterpause, als St. Pauli mit gerade elf Punkten aus den 17 Spielen der Hinrunde Tabellenletzter war, keiner ernsthaft für möglich halten dürfen, auch wenn der Kader zweifellos die Qualität für höhere Ansprüche besaß.

Stolze 30 Punkte holte das Team von Cheftrainer Ewald Lienen in den bisherigen 15 Partien der Zweitliga-Rückrunde. Das ist für sich betrachtet die Bilanz eines Aufstiegskandidaten. Im Idealfall können in den beiden verbleibenden Spielen gegen die SpVgg. Greuther Fürth am kommenden Sonntag (15.30 Uhr) und am 21. Mai (15.30 Uhr) beim VfL Bochum noch sechs weitere Zähler hinzu kommen.

Doch auch schon jetzt stellen die 30 Rückrunden-Punkte die beste St.-Pauli-Bilanz in einer Halbserie dar, seit Ewald Lienen zu Beginn der Rückrunde 2014/15 das Traineramt übernahm. Bisher lag sein Rekord bei 29 Zählern in der Hinrunde 2015/16.

Auch wenn man mit dem Begriff zurückhaltend umgehen sollte, darf die überaus positive Entwicklung des St.-Pauli-Teams, die genau genommen schon nach dem 14. Spieltag mit den immerhin fünf Punkten aus den drei letzten Hinrundenspielen begann, als sportliches Phänomen bezeichnet werden. Es ist allerdings eines, für das es neben Glück und Zufall auch eine ganze Reihe von handfesten, plausiblen Erklärungen gibt. „Wir haben immer an uns geglaubt. Wir waren davon überzeugt, dass wir die Qualität haben, zumindest die Klasse zu halten“, spricht Mittelfeldspieler Christopher Buchtmann das aus, was auch seine Mitspieler verinnerlicht haben. In der Hinrunde war diese Qualität aber viel zu selten zu sehen gewesen. In dieser Phase sorgten dann auch noch Verletzungen und Pech für eine fatale Gemengelage.

„Es war in der Rückrunde entscheidend, dass wir mit den beiden Rückschlägen richtig umgegangen sind“, nennt Kapitän Sören Gonther einen weiteren wichtigen Aspekt. Explizit meint der 30 Jahre alte Innenverteidiger und Führungsspieler damit die unglückliche 0:1-Niederlage gegen den VfB Stuttgart gleich nach der Winterpause sowie die vier Spiele in Folge ohne Sieg vom 24. bis 27. Spieltag. „Wir haben von diesen Partien aber nur beim 0:1 in Aue wirklich schlecht gespielt“, sagt Gonther. Nur mit diesem Bewusstsein des eigenen Potenzials war es anschließend möglich, die aktuelle Erfolgsserie von fünf Siegen in Folge hinzulegen.

Angesichts der im November noch praktisch undenkbaren sportlichen Entwicklung kann sich das Präsidium des FC St. Pauli heute selbst dazu beglückwünschen, auch am Tiefpunkt dieser Saison an Trainer Lienen festgehalten zu haben – ganz gegen die auch diesmal in der Liga wieder vielfach praktizierten Reflexe auf Misserfolg. Doch dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Überaus wichtig war die Anfang November vorgenommene Verpflichtung von Olaf Janßen als zusätzlichem Co-Trainer. In der täglichen Trainingsarbeit übernahm der 50-Jährige sofort das Kommando, gab dem Team neue taktische und spielerische Impulse und verhielt sich dabei absolut loyal gegenüber Lienen, der sich fortan stärker in die Beobachterrolle des Trainingsgeschehens zurückziehen konnte, aber dabei die Entscheidungshoheit und Verantwortung behielt. Es war also quasi die „Light-Version“ eines Trainerwechsels, die in der breiten Öffentlichkeit auch deshalb so gut wie gar nicht wahrgenommen wurde, weil Janßen praktisch vollständig auf publikumswirksame Auftritte verzichtete.

Eine erhebliche Bedeutung hatten zudem die Personalwechsel im Winter, wobei die Abgänge des undisziplinierten Fafa Picault und des durch eine negative Körpersprache auffallenden Marvin Ducksch für das Gesamtgefüge mindestens so wichtig waren wie die drei Zugänge Mats Möller Daehli, Johannes Flum und Lennart Thy.

Zudem konnten in der Rückrunde die zuvor auffällig häufigen Muskelverletzungen reduziert werden. Dies bewirkte, dass sich eine Stammformation mit jeweils nur wenigen punktuellen Veränderungen herauskristallisierte. Dazu erhöhte sich das Trainingsniveau. „Wir müssen alle in den Einheiten Vollgas geben, um uns für einen Einsatz zu empfehlen“, sagt dazu Mittelfeldspieler Bernd Nehrig.

„Ich habe immer wieder gesagt, dass unsere Mannschaft Qualität hat. Jetzt bringen wir diese auch auf den Platz. Es macht so einfach Spaß zu spielen“, sagte Buchtmann nach dem Sieg in Kaiserslautern und seinem sechsten Saisontor. „Es war wichtig, dass wir bei allem Druck den Spaß behalten haben.“ Der 25 Jahre alte Leistungsträger blickte auch gleich nach vorn. „Wir wollen jetzt so weitermachen. Und das müssen wir in die nächste Saison mitnehmen.“ Dies wird auch nötig sein, um nicht erst durch einen weiteren Kraftakt wieder in die Tabellenregion zu gelangen, in die St. Pauli mit seinem ligaweit leicht überdurchschnittlichen Etat auch gehört.