London. Der Brite war Wladimir Klitschkos Trainingspartner. Jetzt fordert der Ukrainer ihn im Londoner Wembleystadion zum Titelkampf heraus

Hunderte Mobiltelefone recken sich ihm entgegen, als er im gleißenden Licht der Scheinwerfer mit seinem Springseil durch die Wembley-Arena tänzelt. 3000 Fans sind in die kleine Schwester des Wembleystadions gekommen, um zu sehen, ob ihr Held körperlich in der nötigen Form ist, um am Sonnabend (22.45 Uhr/RTL) seinen größten Kampf zu gewinnen. Seinen Rivalen Wladimir Klitschko, der vor ihm das obligatorische Medientraining absolviert hat, haben sie ausgebuht. Ihn feiern sie. Es ist ein Heimspiel, und das weiß auch Klitschko, der Großbritanniens neuem Boxhelden unbewegt, und ohne von Joshua einmal angeschaut oder angesprochen zu werden, aus Reihe eins zuschaut. Wieder einmal.

Klitschko saß bereits 2012 in London am Ring, als Joshua Olympiagold gewann, 16 Jahre nach seinem eigenen Triumph in Atlanta. „Damals konnte ich schon sehen, was für ein enormes Potenzial er hat“, sagt der Ukrainer. Zwei Jahre später, der Brite hatte gerade sieben Profikämpfe bestritten, holte Klitschko den mit 1,98 Metern gleich großen Modellathleten in sein Trainingscamp – und erlebte dort das, was Joshuas Manager Eddie Hearn als die größte Stärke des 27-Jährige bezeichnet. „Er war extrem lernwillig, wissbegierig, hat sich alles genau angeschaut und studiert, wie ich trainiere, esse, mein Camp organisiere“, sagt der 41-Jährige.

Diese Einstellung hält Joshua für die wichtigste Eigenschaft, um sich an der Spitze der Königsklasse des Berufsboxens halten zu können. „Der Moment, in dem ich mich für den Besten halte, ist der Moment, in dem ich mit dem Verlieren beginne“, sagt der Mann, der als Teenager die 100 Meter in knapp über zehn Sekunden sprintete. Er habe Vertrauen in seine Fähigkeiten, aber er wolle immer so arbeiten, als wäre er noch der Herausforderer und nicht der Champion des Weltverbands IBF, der er seit dem Zweitrunden-K.-o vor einem Jahr gegen Charles Martin (USA) ist.

Genau dieser Hunger ist es, der den in Watford geborenen Sohn nigerianischer Eltern zum potenziellen Megastar macht. Er hat zwar auch die DNA eines Eliteathleten, das Herz eines Offensivboxers und die Schnelligkeit und Schlagkraft, die man braucht, um in 18 Profikämpfen eine 100-prozentige K.-o.-Quote zu erreichen. „Der Unterschied zwischen Topathlet und Superstar spielt sich aber oberhalb des Halses ab. Deshalb arbeite ich hart an meiner mentalen Stärke“, sagt er. Joshua inhaliert Biografien von Boxern ebenso wie Bücher über Wirtschaft. Mit dem Vater seines Managers, Barry Hearn, einem der einflussreichsten britischen Sportveranstalter, führt er stundenlange Gespräche über dessen Geschäfte.

2010 wurde er wegen Drogenbesitzes verurteilt

Und zu lernen gab es eine Menge für den ehrgeizigen Jungen, der in seiner Jugend mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Körperverletzung war auf den Straßen Nord-Londons, wo er aufwuchs, an der Tagesordnung. 2010 fand die Polizei in Joshuas Auto 200 Gramm Cannabis. Er zeigte sich geständig und wurde zu 100 Stunden Sozialarbeit verurteilt. „Ohne das Boxen“, hat er in Interviews oft gesagt, „wäre ich jetzt wahrscheinlich im Knast.“

Die Disziplin, die das Boxen seinen Besten abverlangt, half dem Vater eines Sohnes, der mit der Kindsmutter nicht in einer Beziehung lebt, die Abgründe des Lebens hinter sich zu lassen. Geplant war die Leistungssportkarriere nie, er stolperte eher durch Zufall ins Boxen. Weil er stark werden wollte, arbeitete er zwischenzeitlich als Maurer. Dass man ihm angesichts seiner Fähigkeiten, seinem guten Aussehen und bedächtigem Auftreten nun zutraut, eine Ära zu prägen und der erste Milliardär im Berufsboxen zu werden, kommt ihm noch immer surreal vor.

Starkult passt auch nicht zu der Bodenständigkeit, mit der Anthony Oluwafemi Olaseni Joshua besticht. Er ist ein höflicher, lustiger und charmanter Gesprächspartner, ein eloquenter und dabei selten ausfallender oder großkotziger Mensch, was auch Klitschko während der Promotion für den Megakampf mehrfach hervorhob. „Es ist schön, dass wir nur durch Leistung 90.000 Fans anlocken und nicht durch verbale oder körperliche Attacken auf den Kontrahenten“, sagt der Ukrainer.