Hamburg. Das Stadion des FC St. Pauli ist alle zwei Wochen Pilgerstätte für fast 30.000 Fans.Bankdirektoren und Obdachlose eint die Liebe zum Kiezclub.Doch wer steht und sitzt wo und sorgt für welche Stimmung?

Am Ostersonntag wird es wieder der Ort sein, an dem sich knapp 30.000 Menschen treffen, um zu diskutieren, singen, schreien, stöhnen, schweigen, schimpfen, jubeln, leiden und genießen. Nicht alles auf einmal, doch immer wieder, in manchmal atemberaubend schnellem Wechsel. Das Millerntor-Stadion des FC St. Pauli, in dem an diesem Sonntag (13.30 Uhr) das Zweitligaspiel gegen die Würzburger Kickers stattfindet, ist dieser Ort der Gefühle, der Schmelztiegel von Hoffnung und Bangen, Jubel und Enttäuschung.

Dabei geht es eigentlich nur um Fußball, um 90 Minuten plus Nachspielzeit. Alles nur ein Spiel, ein Unterhaltungsprogramm von 22 jungen Männern auf einem derzeit ziemlich ansehn­lichen Rasen, kurzum: eine ziemliche Nebensächlichkeit in einer gerade bewegten, aufwühlenden, unsicheren Zeit?

Die Südtribüne beheimatet Ultras und Business-Seat-Fans

Auf den ersten Blick – ja. Doch für die weitaus meisten, die in der Regel alle 14 Tage ins Millerntor-Stadion kommen, ist es mehr als ein belangloser Zeitvertreib. Wer zum FC St. Pauli geht, mit diesem Club sympathisiert, sich zu ihm bekennt, gibt damit auch ein Statement ab zu den bekannten Grundwerten des Vereins, der es ganz bewusst nicht allen recht machen will.

Wer nun aber glaubt, überall am Millerntor die im Grunde gleichen Typen zu finden, irrt allerdings. Es lohnt sich vielmehr, genauer hinzuschauen, wer wo auf den vier Tribünen des seit knapp zwei Jahren wieder fertiggestellten Stadions zu Hause ist.

Starten wir unsere Rundreise auf der Südtribüne. Unten auf den Stehplätzen ist die Heimat der „Ultras“. Angeleitet von Vorsängern werden hier praktisch während des gesamten Spiels Lieder zum Besten gegeben, dabei wird gehüpft und sich selbst dafür gefeiert. Rund 800 Fans werden den „Ultras St. Pauli“ (USP) zugerechnet, hinzu kommen noch fast ebenso viele „ultraaffine“ Fans. Hier werden regelmäßig Choreografien zelebriert, aber gelegentlich auch Pyros entzündet, was inzwischen von vielen anderen Fans kritisch gesehen wird. Auch die zum Teil als monoton empfundene Dauerbeschallung ohne Bezug zum Geschehen auf dem Rasen stößt nicht überall auf Gegenliebe. Gravierender sind allerdings die Probleme mit der zwischen 50 und 70 Personen starken, gewaltbereiten Gruppe „New Kids St. Pauli“.

Auf den mittleren Sitzplätzen über den Ultras befinden sich ein paar Hundert bequeme Business-Seats, auf denen während des Spiels Getränke gereicht werden. Bisweilen sind hier auch Anhänger des Gästeteams eingeladen, oder es haben sich gut betuchte Fans des gegnerischen Clubs für ein Spiel Tickets für diesen Bereich gekauft. Insgesamt 2400 Business-Seats gibt es im Millerntorstadion, dazu 600 Plätze für die Besucher in den Logen, die hier, das Rotlicht lässt grüßen, Séparées heißen.

Immer mal wieder kommt es zu brisanten Situationen, wenn Gästefans auf den Business-Seats allzu überschwänglich ein Tor ihres Teams feiern und sich zu provozierenden Gesten gegenüber den vor ihn stehenden Ultras hinreißen lassen. So gab es hier auch schon Auseinandersetzungen, die nicht im verbalen Bereich blieben. Inzwischen dürfen auf der Südtribüne bei manchen Spielen keine Fanartikel des Gegners mehr getragen werden.

Aus den St.-Pauli-Fans auf der „Süd“ rekrutiert sich zum Großteil auch der Kreis derer, die die Mannschaft zu Auswärtsspielen begleiten. Je nach Kapazität der fremden Stadien schwankt die Zahl der Auswärtsfahrer zwischen 1500 und 6000. Eine Auswärtsdauerkarte haben sich 259 Fans gesichert.

Gehören die Anhänger auf den Stehplätzen der Südtribüne eher der jüngeren Generation an, so ist das Bild auf der Gegengeraden ein anderes. Das Wort „Vergreisung“ macht hier schon die Runde, was sicherlich übertrieben ist. Richtig ist, dass sich hier zu einem großen Teil St.-Pauli-Fans tummeln, die schon Ende der 1980er-Jahre dabei waren, als mit dem Bundesliga-Aufstieg unter Trainer Helmut Schulte der Millerntor-Hype seinen Anfang nahm. Seither sind eben an die 30 Jahre vergangen, die Mittzwanziger von damals sind heute Mittfünfziger. Manche haben sich denn auch von Steh- zu Sitzplatzzuschauern gewandelt.

Dennoch ist der Stehplatzbereich auf der Gegengerade mit 10.000 Plätzen über die gesamte Länge des Spielfeldes der größte seiner Art in einem neu gebauten Stadion in Deutschland. Es war eine ganz bewusste Entscheidung beim 2007 begonnenen Neubau, nicht nur möglichst viele Stehplätze (16.940 von insgesamt 29.546) zu schaffen, sondern diese auch in attraktiven Bereichen zu platzieren. Mit der Erhöhung der Kapazität konnten auch wieder jüngere Zuschauer in diesen Bereich geholt werden. Sonst ist dies kaum möglich. Wer einmal eine Dauerkarte für die Gegengerade hat, gibt sie nicht mehr her.

Im Block G1, der sich vom Spielfeld aus gesehen rechts oben auf der Gegengeraden befindet, werden die Sitzschalen nur in der Halbzeitpause zum Ausruhen genutzt, sonst wird auch hier gestanden. Auf der Gegengerade tummeln sich auch etliche der aktuellen und ehemaligen Funktionäre, wenn sie nicht gerade aus repräsentativen Anlässen auf der Haupttribüne gefordert sind. Im Gegensatz zum Dauergesang von der Südtribüne kommt von der Gegengerade, insbesondere aus dem „Support-Block“ C, vorwiegend eine spielbezogene, verbale Unterstützung. Dies kann allerdings, wenn auf dem Feld eher Langeweile produziert wird, auch zum Schweigen führen. Den Eindruck, dass es im Stadion in den vergangenen Jahren trotz der größten je vorhandenen Zuschauermenge insgesamt leiser geworden ist, teilen viele Kenner. Oben auf der Gegengeraden befinden sich auch die Hörplätze für Sehbehinderte, denen die speziell ausgebildeten Reporter des AfM-Radios das Spielgeschehen verbal näher bringen.

Die Nordtribüne hat den Ruf, die bunteste zu sein. Auf den Stehplätzen findet man besonders viele „Kutten-Fans“ und Hamburger Originale. Der „Nord-Support“ versteht sich als Pendant zu den Südtribünenfans. Die Identifikation der Anhänger mit dieser vergleichsweise kleinen Tribüne, auf der es auch einen Familienblock gibt, gilt als besonders groß.

Hier auf der „Nord“ ist im linken Bereich auch der Gästeblock angesiedelt mit der Besonderheit, dass er durch ein Verschieben der Begrenzungszäune von rund 2800 Plätzen auf 600 reduziert werden kann, je nach Nachfrage der jeweiligen Anhänger der Gastmannschaft. Entsprechend vergrößert sich dann das Kontingent für die heimischen Anhänger. An diesem Sonntag werden rund 1200 Würzburger Fans zugegen sein. Entsprechend konnten zu den regelmäßig 4700 Tagestickets noch 1400 weitere für die Heim-Anhänger verkauft werden.

Bei 15.000 Dauerkarten und dazu 4000 Saisonpaketen, die keine Rabattierung und kein Vorkaufsrecht für die folgende Saison beinhalten, sowie rund 3000 VIP-Tickets, sind die Tageskarten nötig, um einen gewissen Wechsel im Publikum zu ermöglichen und nicht zu einem „Closed Shop“ zu werden.

Die „Oldtras“ hängten vor ihren Sitzen Blumenkästen auf

Unten auf der Haupttribüne haben sich derweil nach dem Neubau die „Oldtras“ angesiedelt, die sich bewusst und nicht nur aufgrund ihres Alters als Gegenpart zu den „Ultras“ verstehen. Bekannt wurden sie auch damit, dass sie Blumenkästen an der Brüstung vor ihrer Sitzreihe aufhängten. Vor der untersten Reihe ist Platz für insgesamt 68 Rollstuhlfahrer und je eine Begleitperson.

Ansonsten wird die Haupttribüne geprägt durch einen großen Business-Seat-Bereich, deren Besucher bisweilen mit sanfter verbaler Gewalt dazu gebracht werden müssen, zu Beginn der Halbzeiten den dahinter liegenden „Ballsaal“ zu verlassen. Darüber befindet sich eine vergleichsweise komfortable Pressetribüne, und ganz oben sind über die gesamte Breite sehr unterschiedlich ausgestattete Séparées platziert, seit Sommer 2016 auch eine Alpenhütte in der Nachbarschaft von „Susis Showbar“. Die in der Ecke zwischen Haupt- und Südtribüne gelegene Kindertagesstätte ist einzigartig in einem deutschen Stadion, darunter sind passenderweise die Plätze des „Rabauken-Clubs“.

„Der Satz ,Hier sitzt der Banker neben dem Punker’ ist mittlerweile überstrapaziert, aber im Kern zeigt er, dass wir über ein sehr heterogenes und vielfältiges Publikum verfügen. Mit rund 30 Prozent Frauenanteil bei den Dauerkarten und Saisonpaketen haben wir zudem einen großen Anteil weiblicher Fans im Stadion, dies ist überdurchschnittlich im Ligavergleich“, sagt St. Paulis Geschäftsführer Andreas Rettig. „Regelmäßig besuchen geflüchtete Menschen Spiele unserer Profis, gleichzeitig haben wir auch den klassischen Logenmieter bei uns. Diese Vielfalt spiegelt unseren weltoffenen Verein wider und macht ihn besonders.“

Mitarbeit: Alexander Berthold