Hamburg. Sport1-Experte Stefan Kretzschmar über das 25. Handball-Final-Four, das am Wochenende in der Barclaycard Arena geworfen wird

Als der ehemalige Weltklasse-Linksaußen Stefan Kretzschmar (44) vor acht Jahren beim SC Leipzig einstieg, spielte der Club in der vierten Liga. Eine seiner ersten Amtshandlungen als Aufsichtsrat war, Sponsoren, Unterstützer und Freunde nach Hamburg zum Final Four einzuladen. Das war 2010. „Sie sollten erleben, welch geiles Produkt Handball sein kann und dass es für uns ein Ziel sein muss, hier mitzuspielen.“ Der Ausflug zeigte Wirkung, viele der Mitreisenden engagierten sich anschließend im Verein.

Sieben Jahre später werfen die Leipziger nicht nur in der Bundesliga, sie haben sich auch erstmals ins Final Four in die ausverkaufte Barclaycard Arena gekämpft. Im Halbfinale (Sonnabend, 14.30 Uhr) treffen sie auf den THW Kiel, um 17.30 Uhr duellieren sich die SG Flensburg-Handewitt und die Rhein-Neckar Löwen. Das Finale steigt Sonntag um 14.30 Uhr. Sport1 zeigt alle Spiele live. Der Sender ist diese Woche für seine Handballübertragungen mit dem Deutschen Sportjournalistenpreis ausgezeichnet worden. Für das Abendblatt analysiert Sport1-Experte Kretz-schmar die Chancen der vier Teams.
SG Flensburg-Handewitt:
Der Bundesliga-Tabellenführer stellt die derzeit stabilste deutsche Mannschaft, erfolgreich in allen laufenden Wettbewerben. Der Kader ist breit aufgestellt, das Team spielt seit Jahren zusammen, die Abläufe sind gelernt, Trainer Ljubomir Vranjes hat seine Ideen umgesetzt. Jeder weiß, was der andere macht, wohin er läuft, in Abwehr und Angriff greifen die Automatismen. Spieler wie der ehemalige HSV-Profi Kentin Mahé und der Kieler Mittelmann Rasmus Lauge haben sich unter Vranjes noch einmal weiter in Richtung Weltklasse entwickelt. Und mit Mattias Andersson steht ein Weltklassemann im Tor, der hält, was zu halten ist – und darüber hinaus eine Menge mehr. Vielleicht wichtiger noch: Die Mannschaft verliert in hitzigen Phasen nie die Übersicht, ein Rückstand von drei oder fünf Toren führt nicht zu hektischen Aktivitäten. Das sind alles Attribute eines absoluten Spitzenteams, und natürlich sind die Flensburger die Mannschaft, die es an diesem Wochenende beim Final Four zu schlagen gilt.

Rhein-Neckar Löwen:
Hat man der Mannschaft jahrelang nachgesagt, sie könne keine Titel gewinnen, hat sie das im vergangenen Jahr mit dem souveränen Gewinn der ersten deutschen Meisterschaft eindrucksvoll widerlegt. Die psychologische Komponente sollte damit bei der Chancenbeurteilung entfallen. Das Team hat eine extrem hohe Qualität und mit dem Schweizer Andy Schmid einen Weltklasse-Spielmacher. Kein Bundesligaverein ist auf dieser äußerst wichtigen Position besser besetzt. Überrascht hat mich jedoch das Scheitern der Löwen im Achtelfinale der Champions League gegen den THW Kiel, nachdem sie in Kiel gewonnen und dort das Spiel dominiert hatten. Das spricht immer noch für eine gewisse Anfälligkeit in Stresssituationen, die die Mannschaft nach der Meisterschaft abgelegt zu haben schien.

THW Kiel:
In Kiel heißt das Lieblingswort zurzeit Umbruch. Na ja. Der Club hat immer noch den höchsten Etat der Liga, mehr Weltklassespieler als beim THW gibt es in keiner anderen Mannschaft, allein die Torhüterposition ist mit dem dänischen Olympiasieger Niklas Landin und unserem Europameister Andreas Wolff überragend besetzt. Wo die Kieler in der Tat strukturelle Probleme haben, ist im zentralen Rückraum, nachdem Aron Pálmarsson vor zwei Jahren zum ungarischen Abonnementsmeister MKB Veszprém gewechselt ist. Es fehlt im Angriff jemand, der den Rhythmus bestimmt, der die Weltklassespieler in Szene setzt, der das Tempo verschärft oder wieder rauszieht. Kiel greift hauptsächlich über die Halbpositionen an, was ihr Spiel tendenziell ausrechenbar und langsam macht. Auf dem ehemaligen HSVer Domagoj Duvnjak lastet dabei sehr viel Verantwortung. Was der Junge in den vergangenen Jahren geleistet hat, ist fast schon unmenschlich. Dass er jetzt häufiger verletzt ist, ist eine Folge dieser permanten (Über-)Belastungen.

SC DHfK Leipzig:
Wenn ich sage, dass im Final Four vieles möglich ist, ein Außenseitersieg des SC Magdeburg wie im vergangenen Jahr bei der Leistungsdichte der vier Endrundenteilnehmer nicht einmal als Sensation gewertet werden darf, drücke ich meine Hoffnung aus, dass meine Leipziger diesmal diese Rolle übernehmen können. Die Jungs sind hungrig, spielen diszipliniert, taktisch variabel, haben mit dem neuen Bundestrainer Christian Prokop einen hervorragenden Coach, und was sie in dieser Saison in der Bundesliga abgeliefert haben, sie sind momentan Tabellensechster, ist aller Ehren wert. Das Final Four ist der erste Auftritt auf der großen Handballbühne, die Atmosphäre etwas ganz Spezielles und damit gewöhnungsbedürftig. Sie kann animierend oder belastend wirken, das wird über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Am vergangenen Sonntag haben die Leipziger bei ihrer Last-Second-Niederlage in Mannheim (23:24) gezeigt, dass sie mit einer der besten deutschen Mannschaften mithalten können. Ich freue mich ungemein auf den Auftritt in Hamburg.