Bremen. Landgericht Bremen spricht dem nierenkranken Fußballprofi Ivan Klasnic 100.000 Euro Schmerzensgeld und eine Million Euro Verdienstausfall zu

Irgendwann im Laufe dieses quälend langen Gerichtsprozesses hat Ivan Klasnic eine bemerkenswerte Frage gestellt: „Hätte ich sterben können, wenn ich 2005 nicht zufällig eine Blinddarm-OP gehabt hätte?“ Diese Anmerkung ging außerhalb des Protokolls an den zuständigen Gutachter, der vor dem Landgericht Bremen einen in der Fußball-Bundesliga bislang einzigartigen Fall betrachtete. Wie konnte es so weit kommen, dass erst bei einer anderen Erkrankung festgestellt wurde, dass der Stürmerstar des SV Werder bereits in seinen besten Zeiten mit einer kaum funktionsfähigen Niere kickte, die ihm dann alsbald entfernt werden musste?

Am Freitag erging nun der Urteilsspruch – und der in Hamburg geborene und hier lebende Klasnic war gar nicht gekommen, um persönlich von Richter Clemens Bolay zu erfahren, dass er den fast zehn Jahre dauernden Prozess gegen den früheren Werder-Mannschaftsarzt Götz Dimanski und die Internistin Manju Guha gewonnen hat, denen nachweislich „grobe Behandlungsfehler“ unterlaufen sind. Dem 37-Jährigen, der sich heute dreimal wöchentlich zur Dialyse im Universitätsklinikum Eppendorf einfinden muss, stehen 100.000 Euro Schmerzensgeld plus Zinsen zu, dazu rund eine Million Euro Verdienstausfall. Über Dimanski und Guha sagte der Richter, es sei „objektiv nicht mehr nachvollziehbar, dass das einem Arzt passieren kann“. Die Beschuldigten ersparten sich mit ihrer Absenz die Leviten am Landgericht. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, beide Parteien können Revision einlegen.

„Menschlich berührt es mich natürlich sehr“, hatte Dimanski in einer am vergangenen Sonntag ausgestrahlten NDR-Dokumentation gesagt, „sachlich gesehen gehe ich ganz gelassen an die Sache ran.“ Gegenseitige Schuldzuweisungen unter Medizinern überzeugten das Gericht nicht, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Der ehemalige Mannschaftsarzt, der unter Werder- Manager Klaus Allofs als unantastbar galt, aber 2014 unter Nachfolger Thomas Eichin gefeuert wurde, soll deshalb mit der beteiligten Internistin auch für alle anfallenden „materiellen und immateriellen“ Schäden aufkommen.

Es wird eine spannende Frage, ob Klasnic, der von 2001 bis 2008 für Werder stürmte, nur den Verdienstausfall von rund einer Million Euro für 2007 geltend macht. Ziemlich sicher hätte die Karriere des auch abseits des Platzes schlitzohrigen Angreifers ja länger gedauert als bis 2013, als die aktive Zeit bei Mainz 05 eher unschön endete, weil Klasnic am Ende nicht mehr mit Trainer Thomas Tuchel konnte. Aber seine körperliche Verfassung war zu diesem Zeitpunkt bereits zu schlecht, um im lauf- und zweikampfintensiven Erstligabetrieb zu bestehen – so ehrlich müsste er rückblickend sein.

Aber ist dem Kroaten, der für sein Heimatland mit transplantierter Niere noch bei der EM 2008 als Torschütze in Erscheinung trat und jetzt in seiner Heimatstadt Hamburg einmal in der Woche mit Kumpels Indoor-Soccer spielt und sich in der Eimsbütteler Kaifu-Lodge fit hält, ein gewisser Groll zu verdenken? Schon in der in Bremen legendären Double-Saison 2003/04 wurde in Gujas Reha-Zentrum ein auf 1,87 angestiegener Kreatininwert bei Klasnic gemessen.

Statt ihn aber zu einer Nierenbiopsie zu schicken, schluckte er Schmerzmittel. Morgens, mittags, abends. Wie Smarties habe ihr Mann diese eingeworfen, sagte seine Ex-Frau Patricia 2008 in der ARD-Sendung „Beckmann“.

Das Unheil nahm seinen Lauf. Die dramatischen Werte in den Folgejahren sah sich Guha teilweise gar nicht mehr an. Dimanski erklärte, er habe sich auf den internistischen Bericht verlassen, in dem stand: „Keine weitere Diagnostik erforderlich.“ Ein verhängnisvoller Doppelpass, durch den die Schäden alsbald irreparabel waren. 2005 lag der Kreatininwert bereits bei katastrophalen 3,14 – und mit jeder Tablette wurde alles nur noch schlimmer.

Die weit verbreitete Einnahme von Schmerzmitteln gilt in der Liga als Tabuthema, das erst kürzlich Niko Kovac als Trainer von Eintracht Frankfurt ansprach. „Diejenigen, die denken, dass es Profifußball ohne Schmerzmittel gibt, sind auf dem Holzweg.“ Sein Darmstädter Kollege Torsten Frings, Klasnic’ ehemaliger Mitspieler, pflichtete ihm bei. Gegen „ein bisschen Aua“ gebe es leichte Mittel. Aber genau dieser leichtfertige Umgang macht die Causa so gemeingefährlich. Robert Erbeldinger, Herausgeber der „Sportärztezeitung“, nennt es ein Hauptproblem, dass Wirkstoffe wie Paracetamol, Ibuprofen oder Diclofenac teils frei verfügbar seien. „Meist wissen die medizinischen Abteilungen der Clubs nichts über eine vermehrte eigenständige Einnahme durch die Spieler“, klagt Erbeldinger. Viele würden Schmerztabletten wie Nahrungsergänzungsmittel behandeln. Auch der langjährige Darmstädter Mannschaftsarzt Klaus Pöttgen warnt: „Dieser Fall zeigt, mit welcher Sensibilität die Nierenwerte kontrolliert werden müssen.“

Wenn etwas die Sinne schärft, dann die menschliche Tragik bei Ivan Klasnic: Die erste Transplantation mit der Niere seiner Mutter ging vor zehn Jahren schief. Monate später wurde ihm das vom Vater gespendete Organ eingepflanzt, das allerdings seit vergangenen Spätsommer sein Blut nicht mehr ausreichend reinigt. Sein Bruder wollte sich als Lebendspender zur Verfügung stellen, doch hat er inzwischen Antikörper gegen familiäre Organe gebildet. Die durchschnittliche Wartezeit auf eine neue Niere beträgt sieben Jahre. Seine Lage erträgt er tapfer: „Ich muss die Situation so annehmen, wie sie ist.“