Hamburg. Vor seiner Rückkehr nach Frankfurt spricht der Vorstandsvorsitzende des HSV über hohe Gehälter, überhöhte Erwartungen und die Folgen eines Abstiegs

Es ist erst etwas mehr als ein Jahr her, da traf sich das Abendblatt mit Heribert Bruchhagen in Frankfurt zu seinem großen Abschiedsinterview. „Ist das noch meine Welt?“, fragte sich der heute 68-Jährige nach 27 Jahren als Funktionär in der Bundesliga. Ein Jahr später ist alles anders. Bruchhagen ist zurück auf der großen Bühne – und muss mal eben kurz den HSV retten.

Herr Bruchhagen, wenn wir Ihnen in unserem Interview vor einem Jahr eine Wette angeboten hätten, dass Sie am Sonnabend als HSV-Chef in der Commerzbank-Arena zu Gast sind, wie viel Geld hätten Sie gesetzt?

Heribert Bruchhagen: Ich wäre jede Höhe eingegangen und hätte die Wette als gewonnen betrachtet. Aber Sie haben es ja nicht gemacht.

Schön blöd von uns.

Dabei haben Journalisten doch hohe prognostische Kompetenzen (lacht).

Warum ist es doch anders gekommen?

Ich habe den Sommer sehr genossen. Der Job bei Sky war neu für mich. Ich musste mich auch einarbeiten, schließlich gehöre ich keinem Literaturclub an. Ich habe als Hobby immer nur Sport gehabt. Ich hatte auch keine gesteigerte Neigung zu einem Seniorenstudium in Pädagogik, Psychologie oder Rechtswissenschaft. Ich habe im Herbst einfach gemerkt, dass mir langweilig wurde.

Und dann kam der HSV ...

Der HSV kam aus heiterem Himmel. Ich habe die Situation natürlich beobachtet und die Diskussion um Dietmar Beiersdorfer mitbekommen. Ich habe Didi oft bei Sky gesehen, wie er zwei Punkte nach zehn Spielen erklären musste. Das tat mir richtig weh.

Trotz des Mitgefühls haben Sie zugesagt?

Karl Gernandt hat mir versichert, dass Beiersdorfer informiert war. Sonst hätte ich gar keine Gespräche geführt. Mein Name wurde ja bereits vorher in den Medien spekuliert. Felix Magath, Horst Heldt, Bruchhagen. Sebastian Hellmann hat mich im Oktober während einer Sky-Sendung darauf angesprochen, dabei gab noch gar keinen Kontakt zum HSV. Das Angebot kam erst später.

Würden Sie die These widerlegen, dass Sie den Ruhestand für keinen anderen Club aufgegeben hätten?

Sie werden von mir keine populistischen Sätze hören wie „Ich trage die Raute im Herzen“. Aber natürlich habe ich immer eine enge Verbindung zum HSV gehalten.

Noch eine These: Sie haben nach Ihrer Entlassung 1994 durch Präsident Ronald Wulff nie ganz abgeschlossen mit dem HSV.

Der HSV war der einzige Verein, bei dem ich entlassen worden bin, obwohl wir eine super Mannschaft hatten und tabellarisch gut dastanden. Das tat natürlich weh.

Ist Ihre Rückkehr nach Frankfurt mit ähnlichen Gefühlen verbunden?

Ich war 16 Jahre in Frankfurt. Zwei Jahre bei der DFL, 14 Jahre bei der Eintracht. Die Zeit hat mich stark geprägt. Das ist doch klar.

Nach Ihrem Weggang hat Ihr ehemaliger Vorstandskollege Axel Hellmann nicht gerade nette Worte über Sie verloren. Werden Sie ihm am Sonnabend die Hand geben?

Natürlich. Das habe ich im Übrigen mit Ronny Wulff auch so gemacht.

Hellmanns Kernaussage bestand darin, dass Sie kein Visionär seien.

Die Frage ist, was Hellmann darunter versteht. Natürlich kann ich schwadronieren über Digitalisierung und Internationalisierung. Aber das sind Worthülsen, es entscheiden letztlich die Taten.

Was ist denn Ihre Vision mit dem HSV?

Meine Aufgabe ist es, alles dafür zu tun, dass hier ausschließlich über Fußball gesprochen wird. Es gibt für mich nur einen Unternehmensleitsatz: Der HSV muss fester Bestandteil der Bundesliga sein, unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Vernunft. Das ist der einzige Leitsatz, an dem ich mich orientiere.

Nach wenigen Wochen haben Sie mit Walace den teuersten Transfer Ihrer Karriere getätigt. Ist das wirtschaftliche Vernunft?

Walace hätten wir mit unseren Mitteln nicht finanzieren können. Wir mussten aus der Not heraus etwas machen, um den Kollateralschaden zu verhindern. Und wir hatten durch Herrn Kühne die wirtschaftlichen Möglichkeiten.

Es gibt Stimmen, die danach bereits Ihre Glaubwürdigkeit infrage gestellt haben.

Das können sie sagen. Sie können aber auch sagen, der Herr Bruchhagen trägt die Gesamtverantwortung. Und die lautet Klassenerhalt. Es gibt immer zwei Seiten. Wenn wir die Klasse halten, wird sich die angesprochene Seite weniger zu Wort melden.

Anders gefragt: Würde es eine Transferperiode wie im vergangenen Sommer – der HSV holte mit Kühnes Hilfe fünf neue Spieler für mehr als 30 Millionen Euro – auch unter Ihrer Führung geben?

Ich kann Ihnen sagen, dass der Aufsichtsrat mich eingestellt hat, um das wirtschaftliche Verhältnis auszugleichen. Wir sind im Lizenzspieleretat Siebter und tabellarisch 16. Das ist die Wahrheit. Ich wurde geholt, weil man mir die Aufgabe zutraut, dieses Verhältnis annähernd auszugleichen.

Wie wollen Sie das schaffen?

Es gibt zwei Möglichkeiten. Ich könnte die Kosten senken, wenn ich von 200 Mitarbeitern 50 entlasse. Die Einsparung entspricht aber nur dem Durchschnittsgehalt eines Lizenzspielers beim HSV. Ich kann also nur einen Pool angreifen, und das sind die Gehälter, die mit den Leistungen auf dem Rasen nicht immer übereinstimmen. Das muss meine Zielrichtung sein.

Diese Haltung müssen Sie auf dem Markt erst einmal platzieren ...

Und das ist eine große Herausforderung. Ich habe ja mit Didi schon einige Tage im Büro gesessen, als das noch gar keiner mitbekommen hat. Er hat mir plausibel erklärt, warum er hier in den vergangenen Jahren immer wieder Namen präsentieren musste. Die Erwartungshaltung war immer, Topspieler zu holen, um aus den unteren Regionen herauszukommen. Diese Situation wird auch auf mich zukommen.

Würden Sie den HSV gerne unabhängiger von Kühne machen?

Ich habe inzwischen erkannt, dass Herr Kühne für uns unverzichtbar ist.

Das heißt, der HSV wird bei Klassenerhalt so weitermachen wie bisher?

Entscheidend ist nicht, was ich denke, sondern was dem HSV guttut. Da müssen wir einen schlauen, pragmatischen Weg finden. Aber den werde ich sicher nicht in einem Interview herauspusten. Letztlich müssen wir einfach mehr leisten als die Clubs, die einen weitaus geringeren Etat haben.

Macht es Spaß, Sparkommissar zu spielen?

Schauen Sie, Fredi Bobic, mein Nachfolger in Frankfurt, musste vor ein paar Jahren in Stuttgart den Etat auch von 60 auf 46 Millionen herunterfahren. Dann wurde er gefeuert, und Stuttgart ist abgestiegen. Niemand konzediert, dass er den Etat herunterfahren musste. Hier würde das genauso sein. Darüber bin ich mir im Klaren. Ich habe den Marschallstab im Rucksack, den Lizenzspieleretat senken zu müssen. Das hat man mir auferlegt, und das habe ich akzeptiert.

Die Eintracht haben Sie schuldenfrei hinterlassen. Geht das auch beim HSV?

Es gibt einen großen Unterschied. Frankfurt ist Mieter eines Stadions, der HSV ist Besitzer. Daraus resultieren völlig verschiedene Ansätze.

Sie müssen doch die Vision haben, den HSV irgendwann wirtschaftlich zu sanieren.

Meine Vision ist, dass es nicht mehr erlaubt ist, den HSV einen Chaosclub zu nennen. Deswegen ist es eine Katastrophe, wenn wir in München 0:8 verlieren. Meine Vision ist auch, dass die Realität in der Bundesliga allen klar ist. Das ist nicht leicht zu vermitteln.

Sie meinen die hohe Erwartungshaltung?

Die Erwartungshaltung in Hamburg orientiert sich an Zeiten, in denen es noch kein TV-Geld gab (die Bayern haben heute einen fünfmal so hohen Etat wie der HSV), dem Club von Seeler, Kaltz, Hrubesch, Magath. Die Zeiten haben sich geändert. Damals konnten die Bayern einen Magath nicht holen. Nicht einmal Karsten Bäron konnten sie zu meiner Zeit holen. Die Menschen leben zu gerne in Erinnerungen. Die Vergangenheit darf aber nicht interessieren. Die Fakten der Gegenwart sind für das Selbstverständnis der HSV-Anhänger nicht leicht zu akzeptieren.

Sie mussten bis heute die Lizenzanträge einreichen, auch für den Zweitligafall. Kann sich der HSV die Zweite Liga leisten?

Die Mindereinnahmen wären in der Zweiten Liga gewaltig. Das hätte vor allem in der TV-Tabelle immense Langzeitfolgen. Unsere Sponsorenverträge würden sich verändern. Auf allen Ebenen hätten wir geringere Einnahmen. Das wäre für einen Traditionsclub ein schwerer Schlag. Deswegen bin ich froh, dass wir Jens Todt als Sportchef geholt haben. Er ist ein absoluter Kenner der Zweiten Liga. Das ist aus zweierlei Gründen wichtig: Entweder sind wir selbst Zweitligist. Oder aber er ist ein toller Benchmarker in der Zweiten Liga, um unseren Kader so zu verstärken, wie uns das mit Bobby Wood gelungen ist.

Noch mal nachgefragt: Wäre der HSV in der Zweiten Liga überlebensfähig?

Das ist hypothetisch und hängt davon ab, wie wir uns ausrichten würden. Aber glauben Sie mir: Nur der Ansatz des Gedankens, dass ein Abstieg zu einer Neubesinnung führen könnte, ist töricht. Für Hamburg wäre der Abstieg eine Katastrophe. Aber auch diesen Fall würden wir – wenn auch schwer – lösen können.

Wann beenden Sie das Thema um Markus Gisdols auslaufenden Vertrag?

Jens Todt ist in Gesprächen mit dem Trainer. Wir wollen Markus Gisdol behalten. Aber es muss für alle Seiten eine vernünftige Lösung sein. Ich muss so viele Dinge beachten. Der HSV hat in zwölf Jahren 14 Trainerverträge nicht zu Ende gebracht und am Ende immer eine Abfindung gezahlt. Wir müssen daher alle Szenarien zu Ende denken.

Aktuell sieht es so aus, als ob Gisdol der Klassenerhalt gelingt.

Dass wir überhaupt noch in diese Situation gekommen sind, ist der Analytik von Herrn Gisdol zu verdanken.

Was meinen Sie?

Seine Analytik in Bezug auf teambildende Maßnahmen. Das Soziogramm der Mannschaft hat er sehr weise und sehr klug analysiert. Das Bild verfestigt sich bei mir. Wer nach zehn Spielen zwei Punkte hat, ist abgestiegen. Wir sind noch im Wettbewerb dank der Willenskraft der Mannschaft. Die brauchen wir bis zum Saisonende, um drinzubleiben und für die Zukunft planen zu können.

Wie lange planen Sie Ihre Zukunft? Bis der HSV wieder international spielt?

Das hätten Sie wohl gerne, dass ich mich darauf einlasse. Ich kann mich nur wiederholen: Der HSV muss fester Bestandteil der Bundesliga sein – unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Vernunft.