Hamburg . St. Paulis Andreas Rettig kritisiert nach dem Eklat bei 1860 München erneut die Auswüchse im Profifußball

Da hat Andreas Rettig ja schön wieder einen rausgehauen. Am Sonntagabend, einen Tag nach dem 2:1-Sieg des FC St. Pauli bei 1860 München. In einem „Interview“ auf der Homepage des Vereins. Rettig nutzte die Vorfälle in der Allianz Arena zu einer grundsätzlichen Stellungnahme zu Investoren im Profifußball, den Umgang miteinander und einem Appell an die Deutsche Fußball-Liga (DFL). Wieder schlüpfte der Geschäftsführer und Interims-Sportchef des Kiezclubs in die Rolle des Mahners und Warners vor tatsächlichen und vermeintlichen Fehlentwicklungen im Fußball.

„Das Verhalten der Löwen-Verantwortlichen der letzten Wochen sollte (...) all jenen, die nach Investoren schreien, Mahnung und Warnung zugleich sein“, merkte Rettig an. Bei 1860 München wurden kritischen Journalisten Akkreditierungen weggenommen, Fragen untersagt, und schließlich fühlte sich der jordanische Investor Hasan Ismaik (39) samt seiner Entourage vom Jubel der St.-Pauli-Offiziellen auf der Tribüne gestört und wollte sie ihrer Plätze verweisen. Es scheint fast so, als hätte der in den USA und der Türkei neuerdings gepflegte Umgang mit Medien und Kritikern nun auch die Zweite Liga erreicht. Der Bayerische Journalisten-Verband hat 1860 dafür heftig kritisiert.

Rettig würde sich jedoch auch in diesem Fall „ein konsequentes Eingreifen“ der Fußball-Verbände wünschen: „Jedes Spruchband wird sanktioniert, und hier ist man auf beiden Augen blind.“ Am Montag akzeptierte St. Pauli eine Strafe des DFB in Höhe von 5000 Euro wegen eines geschmacklosen Banners, das St.-Pauli-Ultras beim Heimspiel gegen Dynamo Dresden am 12. Februar gezeigt hatten.

Die DFL hat inzwischen auch auf die Zustände in München reagiert. Jedoch nicht so, wie es sich Rettig und der FC St. Pauli möglicherweise gewünscht hätten. „Angesichts der Tatsache, dass die Clubs sowohl auf ihrem Trainingsgelände als auch im eigenen Stadion Hausrecht ausüben und die DFL in diesem Fall nicht direkt berührt ist, besitzt die DFL hier keine statuarische Grundlage, weitergehend tätig zu werden“, hieß es in einer in klassischem Funktionärsdeutsch gehaltenen Erklärung der Bundesliga-Dachorganisation. Im Falle der entzogenen Akkreditierungen hätte ein „Mediationsgespräch“ stattgefunden.

Die Entfremdung Rettigs von seinem einstigen Arbeitgeber wird dadurch auch im Nachhinein weiter nachvollziehbar. Am 1. Januar 2013 trat der einstige Manager der Bundesligisten Freiburg, Köln und Augsburg seinen Job bei der DFL an, deren Aufgabe es neben der Organisation des Spielbetriebs auch ist, die Einkünfte der Profivereine durch TV-Gelder, Ligasponsoren, internationalen Partnerschaften und weiteren Vermarktungstools zu mehren. Zwei Jahre später hatte er gemerkt, dass dies seine Welt nicht ist. „Mit Blick auf meine persönliche Lebensplanung bin ich (...) zu dem Entschluss gekommen, dass ich meine Zukunft im Club-Fußball sehe“, teilte der gebürtige Leverkusener damals mit.

Zum FC St. Pauli passt der 53-Jährige so gut wie Trainer Ewald Lienen. Er entschied sich trotz besser dotierter Angebote aus der Bundesliga ganz bewusst für den Job am Millerntor. „Ich bin an Politik interessiert und glaube ähnlich zu ticken wie die deutliche Mehrheit der Mitglieder und Anhänger des FC St. Pauli“, sagte Rettig kurz nach seinem Amtsantritt im September 2015. So tritt er auch öffentlich immer wieder glaubwürdig als Bewahrer traditioneller Werte und gegen eine komplette Vermarktung des Fußballs auf.

„Sportliche Ambitionen, wirtschaftliche Situation und gesellschaftspolitische Verantwortung“ müssten im Einklang stehen. Für eine gerechtere Verteilung von TV-Geldern zugunsten der Kleinen hat er sich bereits ausgesprochen. Eine von einer Boulevardzeitung initiierte Aktion zur Flüchtlingshilfe machte der FC St. Pauli nicht mit. Woraufhin sich Rettig mit dem damaligen Chefredakteur des Blattes zoffte.

Er beklagt das Abwerben von Talenten aus Nachwuchsleistungszen­tren, hält Setzlisten bei Vereinswettbewerben für einen „Treppenwitz“ und bedauert ein Abnehmen des Solidaritätsgedankens. „Wenn in der Werbe-Industrie und bei Sponsoren die Tendenz lautet: Nur noch Top-Adressen sind wichtig, alles andere interessiert nicht, verschärft dies das Auseinandergehen der (wirtschaftlichen) Schere“, sagte er dem Abendblatt.

Rettig ist ein Verfechter der 50+1-Regel, die die Macht von Investoren einschränken soll. Er kritisiert die Ausnahme für werksfinanzierte Clubs wie Bayer Leverkusen, den VfL Wolfsburg und RB Leipzig von dieser Regel, die die „Chancengleichheit“ unterlaufe. Von Leverkusens Sportdirektor Rudi Völler wurde er deshalb einmal „Schweinchen Schlau“ genannt – es ist wie ein Adelstitel. Denn es zeigt, dass Rettig durchaus einen Nerv mit seinen Anmerkungen trifft.