Hamburg. Misshandlungsfall am Hamburger Olympiastützpunkt in Dulsberg wird aber weiter kontrovers diskutiert

Der Misshandlungsfall am Internat des Olympiastützpunktes Hamburg/Schleswig-Holstein (OSP), über den das Abendblatt in seiner Freitagausgabe berichtet hatte, sorgt weiter für tiefe Bestürzung bei allen Beteiligten. Ein damals 17 Jahre alter Schwimmer und ein um ein Jahr älterer Badmintonspieler sollen im Zeitraum von August 2015 bis Januar 2016 einen 14 Jahre alten Mitbewohner, der ebenfalls Badminton spielt, psychisch und physisch misshandelt haben. Der Vorfall war öffentlich geworden, nachdem am Donnerstag die „Bild“ unter Berufung auf Aussagen der Mutter des mutmaßlichen Opfers umfangreich über die Misshandlungen berichtet hatte.

Am Freitag nahm der Vater des beschuldigten Badmintonspielers seinen Sohn, gegen den vor dem Amtsgericht Neumünster Anklage wegen Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Nötigung erhoben wurde, öffentlich in Schutz. Sein Sohn sei unschuldig, sagte er dem Nachrichtenportal „shz.de“. Der Anwalt des heute 19-Jährigen, der wie sein mutmaßlicher Mittäter nach Bekanntwerden der Vorfälle des Internats verwiesen worden war und mittlerweile in Saarbrücken lebt und trainiert, sprach von einem „Jungen-Spaß“. Auch der Deutsche Badminton-Verband (DBV) erklärte, er sehe aktuell keinen weiteren Handlungsbedarf. „Konkreter Umfang und Schwere der von der ,Bild’ erhobenen Vorwürfe können derzeit durch den DBV nicht bestätigt werden“, hieß es in einer Mitteilung.

Der Fakt, dass das „Flensburger Tageblatt“ einen nicht näher benannten Ermittler mit der Aussage zitierte, dass „an der Schule etwas gehörig aus dem Ruder gelaufen zu sein scheint“ und die Anklage „wohl nur die Spitze des Eisbergs“ sei, brachte Ingrid Unkelbach gehörig in Rage. Die OSP-Leiterin bekräftigte einmal mehr, dass die Internatsleitung alles Nötige getan habe, um den Vorfall adäquat zu sanktionieren. „Unsere Mitarbeiter hatten schon vor dem jetzt vorliegenden Fall Anzeichen von Cybermobbing unter anderen Schülern bemerkt, sind dem nachgegangen und haben erzieherisch darauf eingewirkt. Aus den daraus folgenden Untersuchungen ist dann der aktuelle Fall ans Licht gekommen“, sagte sie. Die von der Mutter des 14-Jährigen gestellten Strafanzeigen seien direkt nach der Entdeckung durch den OSP erfolgt.

Die nun kontrovers diskutierten Fragen, wie es sein konnte, dass solche Misshandlungen monatelang unbemerkt bleiben konnten, warum der beschuldigte Schwimmer noch immer am Hamburger OSP trainieren darf und ob es grundsätzlich einer gründlicheren psychologischen Begleitung von jugendlichen Leistungssportlern bedarf, legte das Abendblatt dem Sportpädagogen und Mentaltrainer Heiko Hansen vor. Der 51-Jährige aus Bad Bramstedt ist Entwickler des Charaktertests ViQ Sport, arbeitet für die Nachwuchsleistungszentren verschiedener Fußball-Bundesligisten und hat mehrere Bücher zum Thema Charakterbildung bei Kindern und Jugendlichen verfasst. Er ist weder mit dem aktuellen Fall noch mit den handelnden Personen bekannt und hat deshalb eine neutrale Sicht.

Dass ein solcher Fall über Monate unbemerkt bleiben kann, hält Hansen nicht für ungewöhnlich. „Täter, die insbesondere deutlich Jüngere misshandeln, gehen oft sehr subtil und geschickt vor. Und wenn das Opfer sich nicht traut, sich den Eltern oder Betreuern zu offenbaren, ist es für Außenstehende kaum möglich, Verdacht zu schöpfen“, sagt er. Aus seiner Sicht habe die Internatsleitung richtig und vernünftig gehandelt, indem sie die Beschuldigten direkt nach Bekanntwerden der Vorwürfe suspendiert hatte, um das Opfer dahingehend zu schützen, nicht mit seinen Peinigern allein sein zu müssen.

Alarmierend sei, dass der Vater des Beschuldigten, der sich ebenfalls uneinsichtig gezeigt haben soll, öffentlich die Unschuld seines Sohnes beteuere. „Für mich sieht das danach aus, dass im Elternhaus dieselben Muster gewalttätigen Handelns vorherrschen. Deshalb ist das ein gutes Beispiel dafür, dass sich Sportinternate immer auch das Elternhaus gründlich anschauen müssen, bevor es zu einer Zusammenarbeit kommt“, sagt er. Man dürfe nicht vergessen, dass jugendliche Athleten im Spannungsfeld zwischen Schule und Leistungssport unter immensem Druck stünden. „Sie dürfen nie Schwäche zeigen, nie nachlassen. Manche suchen sich deshalb Ventile, um den Druck zu kanalisieren.“ Es sei, sagt Hansen, an der Zeit, „das gesamte System Leistungssport und Schule gründlich zu hinterfragen“. Eine Ausweitung der psychologischen Betreuung sei vonnöten.

Was den Umgang mit Tätern und Opfer angeht, plädiert Heiko Hansen für eine Mischung aus Fordern und Fördern. „Selbstverständlich darf man diese Art Männlichkeitsrituale nicht einfach so hinnehmen, auch wenn sie bei Armeen oder Polizei leider an der Tagesordnung sind, um auszuloten, ob die Teammitglieder über Grenzen gehen können. Aber dort geht es, anders als im Sport, auch um Leben oder Tod. Es gibt auch Rituale, die nicht erniedrigend sind, und andere Möglichkeiten, die Belastungsgrenzen auszutesten.“

Hansen plädiert dafür, Täter und Opfer zu begleiten

Dass das Opfer weiter in Hamburg am Internat lebt und im OSP trainiert, deutet Hansen als positives Zeichen. „Das ist eine reflektorische Art, die mir gefällt, weil er eine innere Stärke zu haben scheint“, sagt er. Dennoch solle der Junge, der am Donnerstag inkognito aus der Schule geholt und zunächst zum Schutz vor Reportern in seine Heimat Berlin gebracht wurde, psychologisch begleitet werden, „um zu lernen, wie er in Zukunft in solchen Situationen handeln kann, damit sie gar nicht erst entstehen“. Gleiches rät Hansen auch der Mutter, da das Öffentlichmachen des Falles in seiner Wahrnehmung kontraproduktiv ist: „Das Opfer wird ebenso in die Öffentlichkeit gezerrt wie die Täter, und ob das dem Jungen hilft, wage ich zu bezweifeln.“

Die Täter, die von ihren Verbänden temporär suspendiert worden waren, nicht komplett vom Leistungssport auszuschließen, hält der Sportpädagoge für richtig. „Fatal wäre, wenn man sie mit dieser Schuld allein lassen würde.“ Bedingung für die weitere Teilnahme am Fördertraining solle jedoch die Aufnahme einer Psychotherapie sein, die im Fall des Schwimmers auch durchgeführt wurde. „Vergeben ist oftmals besser als Verdammen. Wenn sie richtig begleitet werden, können Täter aus solchen Vorfällen für ihr Leben lernen“, sagt Heiko Hansen, der von einer Sache überzeugt ist: „Komplett verhindern kann man solche Dinge nicht. Der Mensch ist leider ein Raubtier.“