Berlin. Der Bayern-Trainer hat Berliner Zuschauern nach einer Spuckattacke den Mittelfinger gezeigt

Am Ende verlor sogar der sonst so coole Carlo Ancelotti die Nerven. Dabei hat der Trainer des FC Bayern München als Profi in Italien, später auch als Coach in seinem Heimatland, in England, Frankreich und Spanien alles erlebt, was man im Fußball erleben kann. Der 57-Jährige kennt jeden Hexenkessel des Kontinents von innen, und so hitzig die Atmosphäre auch war in den unzähligen Derbys und Europapokalschlachten, ertrug er sie meist mit der ihm eigenen Gelassenheit.

Längst ist der Mann, den sie respektvoll den „Mister“ nennen, mit der Aura eines Elder Statesman gesegnet, doch am Sonnabend im Berliner Olympiastadion, nach Abpfiff von Herthas 1:1 gegen den Rekordmeister, ließ sich selbst jener Carlo Ancelotti zu einer ordinären Geste hinreißen. Auf dem Weg in die Katakomben zeigte er den ausgestreckten Mittelfinger in Richtung Tribüne, von wo aus er zuvor bespuckt worden sein soll. Eine Szene, über die ganz Fußball-Deutschland diskutiert – und eine, die den Deutschen Fußball-Bund (DFB) auf den Plan gerufen hat.

Der Kontrollausschuss des Verbandes fordert den Italiener zu einer Stellungnahme auf. Selbiges wird von Herthas Torhüter Rune Jarstein verlangt, der kurz vor Ancelotti die Contenance verlor. Unmittelbar nach dem ebenso späten wie bitteren Gegentor zum 1:1 (90.+6) hatte der Norweger den Ball voller Frust in Richtung der jubelnden Bayern-Spieler gedroschen und dabei Xabi Alonso getroffen. Die Folge: Beschimpfungen, Beleidigungen, Rudelbildung und Rangeleien auf dem Feld, gefolgt von der unsäglichen Spuck-Attacke von den Rängen plus Stinkefinger. „Es gehört sich einfach nicht, dass ein Spieler absichtlich abgeschossen wird“, sagte Bayern-Torhüter Manuel Neuer nach Abpfiff, „egal, wie frustriert man ist.“ Das habe mit Fair Play genauso wenig zu tun wie mit der Vorbildfunktion der Profis.

„Man hat so viel investiert und alles reingehauen“, sagte Jarsteins Landsmann Per Skjelbred, „da nervt es einfach, wenn man so kurz vor Schluss noch den Ausgleich kassiert.“ So verständlich der Frust der Berliner auch war, so sehr hätte man sich aber eine Prise mehr Besonnenheit gewünscht. Jarsteins Kurzschluss und die anschließende Gemütsexplosion unter den Akteuren dürfte jedenfalls nicht dazu beigetragen haben, die Stimmung im Stadion herunterzukühlen. So geriet das Szenario außer Kontrolle.

Jarstein schwieg am Sonntag zu alledem, trabte einsam ein paar Runden um den Trainingsplatz, ehe er zielstrebig in die Kabine stapfte. Auch die Hertha-Verantwortlichen äußerten sich nicht offiziell zu den Vorfällen, weder zu Jarstein, dem nun eine Sperre droht (wenngleich Schiedsrichter Patrick Ittrich ihn per Tatsachenentscheidung mit Gelb bestrafte), noch zum abstoßenden Fehlverhalten eines wohl einzelnen Tribünengastes. Schiedsrichter Ittrich aus Hamburg soll ebenfalls bespuckt worden sein.

BVB-Boss Watzke springt Münchens Coach zur Seite

Im Dezember, als fehlgeleitete Hertha-Fans in Leipzig ein geschmackloses Banner gegen RB-Sportdirektor Ralf Rangnick richteten („Wir warten sehnlichst auf deinen nächsten Burn-out“), hatte sich der Club von diesem Verhalten klar distanziert. Aufklärende Videobilder, auf deren Grundlage der Spucker sanktioniert werden könnte, scheinen nach ersten Prüfungen nicht zu existieren.

Das Spiel mit den Emotionen, es findet ja auf einem schmalen Grat statt. Einerseits taugt es zum Treibstoff der Faszination für den Sport, doch genauso produziert es inakzeptable Fehltritte. Selten aber wurde einer Stinkefinger-Geste mehr Verständnis entgegengebracht als bei Ancelotti. Sogar Hans-Joachim Watzke, der streitbare Geschäftsführer von Bayern-Rivale Borussia Dortmund, plädierte für Nachsicht. „Ich würde nicht den Stab über ihn brechen wollen“, sagte er im Sportstudio des ZDF.

Auch Ancelottis Trainerkollegen solidarisieren sich. „Ich kann Ancelotti absolut verstehen. Es ist respektlos, wenn man angespuckt wird“, sagte Gladbach-Coach Dieter Hecking. „Die Hemmschwelle wird deutlich geringer, das sieht man immer wieder in den Stadien. Das ist ein gesellschaftliches Problem, nicht nur eines im Fußball“, so Hecking. RB Leipzigs Trainer Ralph Hasenhüttl meinte: „Ich wüsste auch nicht, wie ich in der Situation reagieren würde. Keine Ahnung. Und ich bin eher ein ruhiges Gemüt.“

Hertha-Coach Pal Dardai hielt sich dagegen mit einer Wertung zurück. „Als ungarischer Nationaltrainer bin ich im Ausland auch schon bespuckt und beschimpft worden“, sagte er, „das muss man leider runterschlucken.“

Einen unangenehmen Beigeschmack hinterlassen die Ereignisse vom Sonnabend allemal. Nach der couragierten Leistung im Pokal gegen Dortmund war es Hertha zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit gelungen, auf großer Bühne Eigenwerbung zu betreiben, was wirkungsvoller sein dürfte als jede Image-Kampagne. Statt der sportlichen Qualitäten der Berliner rückten nun aber skandalträchtige Themen in den Vordergrund. Jarstein, Herthas Fans, Ancelottis Fingerzeig. Auf diese Art von Emotionen kann der Fußball gut verzichten.