Hamburg. Der Club demonstriert im Pokal, dass der Kader an Qualität gewonnen hat. Trainer Gisdol steht vor dem Spiel in Leipzig vor Härtefällen

Es war eine ungewöhnliche Situation am Mittwochmorgen beim HSV. Während die Startelf aus dem DFB-Pokal-Spiel gegen Köln vom Vorabend im Stadion blieb, trainierten die Reservisten draußen aus dem Rasen. Das allein ist zwar nicht ungewöhnlich, doch die Verteilung der Spieler hatte etwas von verkehrter Welt im Volkspark. Während Stammkräfte wie Nicolai Müller, Lewis Holtby oder Kyriakos Papadopoulos mit den Reservisten trainierten, durften die Reservisten der vergangenen Wochen wie Aaron Hunt, Luca Waldschmidt oder Johan Djourou mit den Stammspielern regenerieren.

Markus Gisdol hatte am Dienstagabend kräftig rotieren müssen. Gleich sechs Veränderungen nahm der HSV-Trainer aufgrund der Verletztenliste an seiner Startelf vor. Doch genau diese Startelf zeigte beim 2:0 (1:0)-Sieg gegen den derzeitigen Bundesliga-Siebten aus Köln eines der besten Spiele im Volksparkstadion in den vergangenen Jahren. „Es tut gut, mal wieder sagen zu können, dass wir spielerisch die bessere Mannschaft waren“, sagte René Adler. Tatsächlich konnte der Torhüter so einen Satz in seinen viereinhalb Jahren beim HSV nur selten von sich geben.

Und so gab es für den HSV nach dem Pokalabend einen doppelten Gewinn. Zum einen den Prämiengewinn von 1,3 Millionen Euro durch den Einzug in das Viertelfinale am 28. Februar/1. März (Auslosung nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe). Zum anderen einen nicht unwesentlichen Erkenntnisgewinn: Der Kader des HSV im Februar 2017 ist in der Breite qualitativ so gut besetzt wie lange nicht. „Die Spieler, die zuletzt hinten dran waren, haben gezeigt, dass mit ihnen zu rechnen ist“, sagt Jens Todt. Der Sportchef des HSV steht am Tag danach im Bauch des Volksparkstadions und blickt zufrieden in die Runde. Bereits eine Woche nach Ende seiner ersten Transferperiode kann er bilanzieren, dass die drei Verpflichtungen auch die erhofften Verstärkungen sind. „Wir haben jetzt eine homogene Gruppe“, sagt Todt.

Nachdem die beiden Innenverteidiger Mergim Mavraj und Kyriakos Papadopoulos in der Bundesliga bereits überzeugten, zeigte auch der Brasilianer Walace bei seinem HSV-Debüt im Pokal eine ansprechende Leistung. „Das war ein guter Einstieg. Er hat sehr mutig gespielt“, sagt Todt über den Mann, den er auf den letzten Drücker für zehn Millionen Euro von Grêmio Porto Alegre verpflichtet hat. Mit Walace, Mavraj und Papadopoulos scheint der HSV nun die Ausgewogenheit im Kader hergestellt zu haben, die in der Hinrunde gefehlt hat. „Es wird rotiert, und das ist für das Innenleben einer Mannschaft wichtig“, sagt Todt. „Der Konkurrenzkampf ist absolut intakt.“

Inmitten dieser Konkurrenz hat sich im defensiven Mittelfeld ein Spieler hervorgetan, den viele auf dieser Position gar nicht mehr auf dem Zettel hatten. Gideon Jung, der gegen Köln zum Mann des Spiels gekürte Abwehrallrounder, ist in diesen Tagen der größte Gewinner unter Gisdol. Nachdem er seinen Platz in der Innenverteidigung nach der Winterpause verloren und sich im Trainingslager in Dubai verletzt hatte, standen seine Chancen auf einen Stammplatz spätestens mit der Verpflichtung von Walace schlecht. Doch sowohl in der Liga gegen Leverkusen als auch im Pokal gegen Köln konnte Jung überzeugen – nun sogar als Torschütze und Vorbereiter. „Für Gideon freut es mich besonders. Er ist ein Spieler, der nicht immer wahrgenommen wird“, sagte Gisdol nach dem Spiel. „Er ist für uns ein unglaublich wichtiger Spieler mit einer glänzenden Perspektive.“

Eine neue Perspektive erhoffen sich nach dem Pokalspiel auch Aaron Hunt und Luca Waldschmidt, die insbesondere in der zweiten Halbzeit gegen Köln zu gefallen wussten. Trainer Gisdol steht vor dem schweren Auswärtsspiel beim Tabellenzweiten RB Leipzig vor Härtefallentscheidungen. Walace raus, Albin Ekdal wieder rein? Holtby wieder rein und Hunt raus? Wie geht’s jetzt weiter mit der Rotation?

Sportchef Jens Todt hat zur letzten Frage eine klare Haltung. „Jeder Spieler weiß, dass er seine Chance bekommt. Die Saison ist noch lang. Wir werden jeden brauchen“, sagt Todt über die Personallage. Denn bei allem Jubel über die zwei jüngsten Erfolge und der Chance, die Pokalprämien in der nächsten Runde um weitere 2,5 Millionen Euro zu steigern, schwebt der HSV in der Liga weiterhin in höchster Abstiegsgefahr. Schon am Sonnabend droht bei einer Niederlage in Leipzig der erneute Sturz auf einen direkten Abstiegsplatz. „Es wird noch ein langer Weg bis zum Klassenerhalt“, sagt Todt.

Dass der HSV das einzige noch nie abgestiegene Gründungsmitglied der Bundesliga ist, hat am Mittwoch selbst die berühmte „New York Times“ zu einem großen Artikel bewogen. Es geht darin viel um die Stadionuhr, die großen Zeiten des Vereins und die schwierigen letzten Jahre im Abstiegskampf. Der Artikel zitiert auch das Lied, das die HSV-Fans nach dem Sieg gegen Köln mal wieder inbrünstig sangen. „Sechsmal Deutscher Meister, dreimal Pokalsieger, immer erste Liga, HSV.“

Dass die Zahl der Pokalsiege in diesem Jahr noch steigt, bleibt für die Fans noch ein Traum. Zumindest der Schlussteil des Lieds hat angesichts der neuen Breite im HSV-Kader aber realistische Chancen, auch diese Saison zu überdauern. Alles andere wäre ja auch verkehrte Welt ...