Hamburg. Der Profiboxer will mit seinem Studiengang „Change Management“ sich und anderen den Übergang in eine neue Karriere erleichtern.

Zur Vorbereitung auf das Gespräch hat Wladimir Klitschko eine Plastikmappe mit einigen Zeitungsartikeln zusammengestellt, aus der er nun ein Blatt zieht. Es ist der Abschiedstext, den Franz Beckenbauer in seiner Funktion als Kolumnist der „Bild“ im vergangenen Dezember verfasst hat. „Schauen Sie“, sagt Klitschko, „hier schreibt er, dass er sich bei seinem Abschiedsspiel gefragt hat, was nun als nächstes kommen wird. Genau das halte ich für falsch, denn so viel Glück wie Franz Beckenbauer haben nur die wenigsten!“

Wladimir Klitschko, seit November 2015 entthronter Herrscher des Schwergewichtsboxens, möchte vorbereitet sein auf den Übergang in eine neue Karriere. Und er möchte, dass andere das auch sind. Deshalb hat der in Hamburg lebende Ukrainer in Kooperation mit der Schweizer Eliteuniversität St. Gallen den Weiterbildungsstudiengang „CAS Change & Innovation Management“ ins Leben gerufen, der am 27. Februar in seine zweite Auflage startet. Bis zu 40 Studierende können an den vier Blöcken mit vier bis fünf Präsenztagen teilnehmen, 19 waren es im Premierenjahr 2016. „Ich bin sehr stolz darauf, was wir gemeinsam geschafft haben“, sagt Klitschko.

Hamburger Abendblatt: Herr Klitschko, Sie werden im März 41 Jahre alt, haben im November 2015 Ihre drei WM-Titel an den zwölf Jahre jüngeren Briten Tyson Fury verloren und 2016 keinen Kampf bestritten. Am 29. April wollen Sie nun im Londoner Wembleystadion vor 90.000 Zuschauern gegen IBF-Champion Anthony Joshua kämpfen. Warum können Sie nicht lassen vom Boxen?

Wladimir Klitschko: Weil ich noch immer das Gefühl habe, in Topform zu sein und in der Lage, die Herausforderung zu meistern. Joshua ist aktuell der beste Schwergewichtler der Welt – jung, ambitioniert, Weltmeister. Aber ich traue mir zu, ihn in seinem Wohnzimmer zu besiegen. 2016 war ein hartes Jahr, ich wollte unbedingt die Titel von Fury zurückholen, und dann hat er zweimal den bereits angesetzten Kampf abgesagt. Seit 26 Jahren bin ich im Leistungssport, und nie gab es ein Kalenderjahr, in dem ich keinen Kampf bestritten habe. Aber es war andererseits eine wichtige Zeit, weil ich immer trainieren und außerdem die Zeit nutzen konnte, um zu analysieren und zu regenerieren. Das tat körperlich und mental gut, weil ich in vielen Bereichen stärker geworden bin.

Dennoch werden Sie oft nach Ihrem Karriereende gefragt. Warum ist es so schwer, den richtigen Moment zum Abtreten zu finden?

Klitschko: Ist es das wirklich? Ich weiß noch nicht, wann ich aufhöre. Es kann jederzeit passieren, und zwar dann, wenn ich spüre, dass mir die Motivation fehlt, um immer wieder hart im Training an mir zu arbeiten. Viel entscheidender ist doch, dass ich mich während der Karriere bereits auf das vorbereite, was danach kommen soll, damit ich nicht in ein Loch falle, wenn es so weit ist. Und genau darauf zielt der Weiterbildungsstudiengang ab, den wir in St. Gallen initiiert haben.

"Was will uns dieser Boxer hier erzählen?"

Dieser Studiengang richtet sich an Angestellte, Topmanager, Selbstständige, die sich beruflich oder auch privat verändern wollen. Was kann einer, der sein Berufsleben lang nur geboxt hat, solchen Menschen denn beibringen?

Klitschko: Exakt dieselbe Frage haben sich die Studierenden auch gestellt. Was will uns der Boxer eigentlich erzählen? Diese Fragezeichen habe ich am ersten Tag, als ich als Initiator und Dozent vor den Teilnehmern stand, in ihren Gesichtern gesehen. Am Ende des Kurses waren die Fragezeichen verschwunden, und das hat mich wahnsinnig gefreut, denn es war ja auch für mich ein Sprung ins Ungewisse, eine große Herausforderung. Genau darum geht es.

Die 110-jährige
Lydia Smuda ist großer Boxfan, besonders die Klitschkos liebt sie. Wladimir besuchte die alte Dame
am Donnerstag im Altenheim
Die 110-jährige Lydia Smuda ist großer Boxfan, besonders die Klitschkos liebt sie. Wladimir besuchte die alte Dame am Donnerstag im Altenheim © HA | Marcelo Hernandez

Dann erklären Sie bitte, wie der Dozent Wladimir Klitschko arbeitet, um die Fragezeichen zu tilgen.

Klitschko: Das Wichtigste ist, dass jeder für das brennt, wovon er berichtet. Wer nicht brennt, kann auch bei anderen keine Leidenschaft entzünden. Wenn ich Einblicke in meinen Beruf gebe, begeistert das die Studierenden, weil sie spüren, dass ich mich mit der Materie auskenne, und weil sie meinen Weg nachvollziehen können. Ich erkläre, wie ich mit Herausforderungen umgegangen bin, und davon gab es einige in meiner Karriere. Ich war mit 24 Weltmeister, mit 28 lag ich nach dem Verlust des Titels am Boden, bin zurückgekommen, war fast zehn Jahre lang Champion, und nun will ich es noch einmal werden. Genau das ist es, was ich unterrichte: Herausforderungen anzunehmen und zu bestehen.

Der Misserfolg, der Sie geprägt hat, war der wichtiger als der Erfolg, um glaubhaft dozieren zu können?

Klitschko: Beides gehört zu einem erfüllten Leben dazu. Wenn wir nichts vom Tod wüssten, würden wir nicht auf unsere Zeit achten, aber wir sind im Rennen gegen die Zeit und uns selbst. Misserfolg ist unheimlich wichtig, um daraus zu lernen. Aber er darf nicht zu groß werden, sonst wird man als Loser wahrgenommen und nicht als Vorbild.

Er hat viele Gesichter: Wladimir Klitschko
Er hat viele Gesichter: Wladimir Klitschko © WITTERS | Jean-Francois Robert

Was hat Sie dazu bewogen, Ihr Wissen mit anderen zu teilen?

Klitschko: Der Motivator im Hintergrund war mein im Oktober 2012 verstorbener Trainer Emanuel Steward. Der hatte so viel Wissen, dass er mir 20-mal dieselbe Geschichte erzählen konnte und ich trotzdem immer noch neue, spannende Aspekte darin fand. Zum Ende seines Lebens hat er kleine Broschüren für seine Trainingsarbeit angefertigt, aber er hat sein Wissen nie ausreichend strukturiert. Als er starb, dachte ich nur, dass nun auch sein ganzes Wissen mit ihm gegangen ist. Und ich möchte nicht, dass mir das auch passiert. Deshalb habe ich unter den Top-10-Unis der Welt einen Partner gesucht und den besten in St. Gallen gefunden, weil sie dort sofort verstanden haben, worum es mir geht.

Was haben Sie denn als Dozent in Ihrem Premierenjahr gelernt?

Klitschko: Ich bin mein eigener Student geworden und habe gelernt zu verstehen, dass ich nicht überall schlau sein kann. Ich bin Experte für Challenge Management und auch fürs Boxen, aber in so vielen Bereichen gibt es viele, die mehr wissen als ich. Einen Satz gibt es, der besonders hängen geblieben ist: Keiner hier ist schlauer als wir alle gemeinsam. Danach handeln wir.

Sie waren selbst Student, haben 2001 in Kiew in Sportwisssenschaften promoviert. Hätte sich der Student Klitschko einen Studiengang wie den gewünscht, den Sie jetzt anbieten?

Klitschko: Ich glaube nicht, dass ich damals schon dafür bereit gewesen wäre. Man versteht Materie in verschiedenen Entwicklungsphasen des Lebens anders. Ich bin jetzt 40, stehe richtig im Saft und habe viel Energie und Erfahrung, deshalb ist es heute der perfekte Zeitpunkt. Ich bin überzeugt davon, dass die Dinge zur rechten Zeit passieren. Mit dem Wissen von heute sehe ich viele Dinge anders als früher.

Zum Beispiel?

Klitschko: Schauen Sie, als ich 1996 als 20-Jähriger Gold bei den Olympischen Spielen gewann, da wollte ich aufhören, weil ich dachte, dass es keine Herausforderungen mehr geben würde. Dann kam der Hamburger Profiboxpromoter Klaus-Peter Kohl und hat mir eine neue Welt eröffnet. Mit 24 war ich Weltmeister im Schwergewicht und dachte erneut, dass nichts mehr kommen könnte. Dass ich mit 41 noch im Ring stehen würde, hätte ich damals nie für möglich gehalten. Kürzlich bin ich vom Amateur-Weltverband Aiba sogar als Legende ausgezeichnet worden. Da war ich sehr stolz, habe mich aber mit einem Augenzwinkern beschwert, denn eine Legende ist man erst nach dem Rücktritt.

Haben Sie Angst, den Zeitpunkt zu verpassen, in dem Sie noch als strahlender Sportheld abtreten können?

Klitschko: Nein, denn ich bereite mich schon sehr, sehr lange auf die Zeit nach der Karriere vor, bin ja schon länger mehr als nur Profiboxer. Auch das ist Thema des Studiengangs: Dass die Teilnehmer lernen, mehrere Karrieren unter einen Hut zu bekommen. Mein Bruder Vitali hat das geschafft, er war Weltmeister im Profiboxen und Bürgermeister von Kiew gleichzeitig. Er ist ein Vorbild, ebenso wie mein Freund Arnold Schwarzenegger, der als Sportler, Schauspieler und Politiker drei Weltkarrieren gemanagt hat. Das ging nur, weil er schon während der einen Karriere die nächste vorbereitet hat. Wer heute nicht an morgen denkt, wird morgen Verlierer sein, weil die Konkurrenz nicht schläft. Wer mit seiner Zeit und seinem Geld nichts anzufangen weiß, der fällt in ein Loch, das Energie kostet. Dann kommen Frust und Probleme.

Wladimir Klitschko beim Training
Wladimir Klitschko beim Training © WITTERS | MalteChristians

Können Sie verstehen, dass ein junger Mann wie Formel-1-Pilot Nico Rosberg nach seinem ersten WM-Titel im Alter von 31 Jahren zurücktritt?

Klitschko: Ich habe riesigen Respekt vor seiner Entscheidung und verstehe es, wenn er den Druck als zu groß empfindet. Dennoch finde ich es sehr schade, denn er ist noch jung und hat wahnsinnig viel gelernt, was er jetzt nutzen könnte. Auch er wird sich etwas Neues suchen müssen, um seine Energie zu kanalisieren.

Das werden auch Sie tun müssen, wenn es mit dem Boxen wirklich irgendwann vorbei ist. Kann ein Unilehrsaal mit 21 Studenten Ersatz sein für die Bühne, die Ihnen 90.000 Fans in Wembley bieten?

Klitschko: Natürlich ist das nicht zu vergleichen, aber jede Vorlesung ist eine intime Erfahrung. Die Studierenden und wir Dozenten haben viel Zeit gemeinsam verbracht und sind Freunde geworden. Anfang Dezember hatten wir in Hamburg ein Alumnitreffen, das war wunderschön. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer haben sich wahnsinnig verändert, haben neue Geschäftsfelder entdeckt oder Start-ups gegründet. Mein Ziel ist es, dass wir den Studiengang mindestens auf dem Niveau halten, auf dem er begonnen hat. Eigentlich will ich, dass er sogar von Jahr zu Jahr besser wird.

Könnte es also sein, dass die Karriere nach der Boxkarriere für Sie an der Universität wartet?

Klitschko: Im Moment sehe ich mich nicht ausschließlich als Dozent. Es macht mir wahnsinnig viel Spaß zu recherchieren und mich mit Wissenschaft zu beschäftigen. Ich will meine Erfahrungen weitergeben, andere davon profitieren lassen und sie besser machen – ob an der Uni, im Boxring oder durch von mir entwickelte Produkte. Tatsächlich befasse ich mich zunehmend mit der Frage, wo ich mich selbst positionieren kann. Richard Branson, Bill Gates, Warren Buffett – sie alle sind Unternehmer, aber auch Visionäre. Und ich? Bin ich Sportler, Unternehmer, Philanthrop?

Da war er wieder Weltmeister: Wladimir Klitschko
Da war er wieder Weltmeister: Wladimir Klitschko © WITTERS | TayDucLam

Ist denn Geld Ihr Antrieb, oder ist es etwas anderes? Immerhin glauben nicht wenige, dass Sie nur noch wegen des Geldes boxen.

Klitschko: Wenn für mich nach 20 Jahren als erfolgreicher Profisportler Geld noch ein wichtiger Antrieb wäre, hätte ich definitiv etwas falsch gemacht. Mein anstehender WM-Kampf ist für mich eine echte Herausforderung, eine Mission, für die ich brenne. Ich will mir meine WM-Gürtel zurückholen und zum dritten Mal Weltmeister im Schwergewicht werden. Für meine weitere Zukunft ist mir wichtig, ein gesundes Leben zu führen und meine Erfahrungen weiterzugeben, um anderen Menschen eine Inspiration sein zu können. Und wenn ich für andere ein Mentor sein kann, so wie es Emanuel Steward für mich war, dann ist das für mich mehr als genug. Alles andere ist nur ein Upgrade.