Hamburg. Immer mehr Clubs in der Bundesliga setzen auf das Vertikalspiel – auch die Hamburger. Doch was bedeutet der Begriff eigentlich?

Es ist ein ungewöhnliches Spielfeld, auf dem die HSV-Profis am Mittwochmorgen trainieren. Die Eckenbereiche des Platzes sind mit Linien abgeschnitten, die Mitte des Feldes mit einem Kreis abgesteckt. Fünf Tabuzonen sowohl für die Spieler als auch für den Ball. Co-Trainer Frank Fröhling steht am Spielfeldrand und kontrolliert die Übung. Läuft der Ball durch eine der Zonen, wird das Spiel direkt unterbrochen. Es eine typische Übung des Trainerteams um Chefcoach Markus Gisdol, Frank Kaspari und Fröhling. „Solche Übungen entstehen und entwickeln sich über die Jahre durch die Spielphilosophie. Wir wollen den torungefährlichen Raum ausschließen, um torgefährliche Bälle in die Tiefe zu provozieren“, sagt Fröhling nach der Trainingseinheit.

Der Co-Trainer spricht damit das Modewort des modernen Fußballs an: das Vertikalspiel. Kaum ein Begriff wird in der Fußballanalyse derzeit häufiger verwendet. Doch was bedeutet das Wort eigentlich? Und warum reden auch beim HSV mittlerweile so viele vom Vertikalspiel? Viel zu tun hat die Wortschöpfung mit Ralf Rangnick und RB Leipzig. Der Sportdirektor des Aufsteigers hat mit seiner vertikalen Spielidee die Bundesliga aufgemischt. Und das schon zum zweiten Mal. Bereits in der Saison 2008/09 verblüffte Rangnick mit derselben Philosophie. Mit 1899 Hoffenheim, damals ebenfalls ein Bundesliga-Neuling, holte er sogar die Herbstmeisterschaft. Doch erst acht Jahre später ist das Wort Vertikalspiel salonfähig geworden.

Im Hintergrund der Hoffenheimer arbeitete damals der heutige Nachwuchschef des HSV, Bernhard Peters, mit Rangnick zusammen. Peters gilt als Verfechter des Vertikalspiels, auch wenn er den Begriff gar nicht so gerne hört. „Früher nannte man es Steilpass, heute heißt es Vertikalspiel.“ Die Idee sei aus dem heutigen Fußball aber nicht mehr wegzudenken. Auch der HSV will mit dieser Fußballphilosophie „steil“ gehen. „Vertikalspiel ist der effizienteste Weg, um vor das gegnerische Tor zu kommen“, sagt Peters im Gespräch mit dem Abendblatt. „Es geht darum, so schnell wie möglich so viele gegnerische Spieler zu überspielen, so dass man so wenige gegnerische Spieler wie möglich noch vor dem Tor hat. Dafür braucht man ein schnelles Entscheidungsverhalten“, sagt Peters. Bei der Europameisterschaft im vergangenen Sommer wurde dafür der Begriff Packing geprägt, der das Überspielen von Gegnern zählt.

HSV-Trainer Gisdol geht es vor allem darum, bei eigenem Ballbesitz durch das Umschaltspiel möglichst schnell in die Spitze vorzustoßen. „Markus Gisdol will die Spieler dazu provozieren, mit dem ersten Blick und dem Vertikalspiel in die entscheidenden vorderen Ebenen zu kommen“, sagt Bernhard Peters. „Das gelingt in manchen Phasen schon sehr gut. Die Idee des Trainers ist markant sichtbar.“

Peters kennt Gisdols Philosophie aus gemeinsamen Hoffenheimer Zeiten. Er war es, der dem HSV empfohlen hat, Gisdol als Nachfolger von Bruno Labbadia zu verpflichten. „Wir haben zu viel in die Breite gespielt und das vertikale Spiel nicht draufgehabt“, sagte der mittlerweile entlassene Club- und Sportchef Dietmar Beiersdorfer zum Trainerwechsel. Nach anfänglichen Problemen schaffte es Gisdol, in den letzten sechs Spielen vor der Winterpause seine Idee auf die Mannschaft zu übertragen. Vor allem durch die Leistungssteigerung von Nicolai Müller und Filip Kostic gelang es dem HSV immer häufiger, durch schnelles Spiel in die Spitze zu Torerfolgen zu kommen. Fünf Tore nach Umschaltbewegungen sind in diesem Zeitraum der Bestwert in der Bundesliga. Saisonübergreifend erzielte nur Leipzig (sieben) mehr Treffer nach Kontern.

Als Paradebeispiel für ein Tor durch Vertikalspiel führt Co-Trainer Fröhling das 1:0 gegen Schalke im letzten Spiel vor Weihnachten an. Über die Stationen Ostrzolek, Ekdal, Kostic und Müller dauerte es vom eigenen Strafraum nur zehn Sekunden bis zum Tor.

Allerdings ist der HSV in dieser Saison auch anfällig für gegnerische Konter. So wie beim 0:1 am Sonnabend in Wolfsburg, als der HSV sich in Überzahl auskontern ließ. Das eigene Vertikalspiel verpuffte dagegen meist an der Mittellinie oder wurde nicht präzise zu Ende gespielt. Stattdessen versuchte der HSV viel mit Flugbällen hinter die Abwehr zu kommen. „Uns waren es zu viele lange Bälle“, sagt Fröhling. „Wenn man immer nur den langen Ball spielt, ist es für den Gegner leichter zu verteidigen, weil er sich darauf einstellt.“

Ein gezielter Flugball könne grundsätzlich aber immer auch eine gute Lösung sein. „Es kann ein probates Mittel sein, um in die vordere Zone zu kommen, wenn man den zweiten Ball gewinnt. Das ist der schnellste Weg, um nach vorne zu kommen“, sagt Fröhling. Noch lieber sieht das Trainertrio aber den scharfen Flachpass in die Offensive. „Die erste Intention eines Spielers sollte es immer sein, den freien Mann in der Tiefe zu sehen. Wenn die Option besteht, gibt es keinen Grund, einen Querpass zu spielen“, sagt Fröhling.

Der 38-Jährige entstammt wie Gisdol der Hoffenheimer Trainerschule. Rangnick, Peters und Taktikguru Helmut Groß entwickelten hier bei den Profis und im Nachwuchs über Jahre eine einheitliche Philosophie mit dem Vertikalspiel als zentrales Element. Peters will diese Idee auch beim HSV weiter vorantreiben. „In unserer Jugend ist das Vertikalspiel ein wichtiger Baustein“, sagt Peters. „Wir versuchen, das Thema übergreifend in den Mittelpunkt zu rücken und uns da weiter zu verbessern.“ Und zwar möglichst schnell.