Rouen. Europameister bezwingt Chile 35:14 und kann fürs Achtelfinale planen. Aber es gibt Sorgen um Paul Drux

Ninja Priesterjahn

Turnen gehört nicht unbedingt zu den Qualitäten von Jannik Kohlbacher. „Das ist nicht so mein Ding“, sagt der Wetzlarer Kreisläufer der Handballnationalmannschaft. Am Sonntag hat der bullige 21-Jährige in Rouen beim zweiten WM-Spiel gegen Chile aber so einige turnerische Elemente präsentiert: Nach nahezu jedem seiner acht Tore ließ sich der 105-Kilo-Mann fallen, um dann mit einer Rückwärtsrolle in den Handstand wieder auf die Füße zu kommen. „Das bringt meine Athletik so mit sich“, sagte er lachend. Wenn die Masse ins Rollen kommt, bremst man sie lieber nicht.

Gleiches dachten sich wohl die Chilenen, die wenig Gegenwehr boten beim 35:14 (17:6)-Sieg der Deutschen. Bundestrainer Dagur Sigurdsson hatte vor der Heißblütigkeit des Gegners gewarnt, der gegen Weißrussland überraschend das erste WM-Gruppenspiel in der chilenischen Handballgeschichte gewonnen hatte, doch „die Mentalität hat heute nicht gestimmt“, klagte Trainer Mateo Garralda. Der Spanier, der 2005 selbst Weltmeister wurde, hatte die komplette erste Rückraumgarnitur um die deutschstämmigen Brüder Erwin und Emil Feuchtmann sowie Chiles stärksten Werfer Rodrigo Salinas zunächst auf der Bank gelassen. „Ich wusste, dass das Spiel gegen Deutschland uns nicht den Weg ins Achtelfinale ebnet“, sagte er. Man konzentriere sich auf die Partie gegen Saudi-Arabien.

„Unsere Freunde vom Fußball werden in ihrer neuen 48er-Liga sicher auch bald solche Spiele erleben“, sagte DHB-Vizepräsident Bob Hanning in Anspielung auf den Beschluss des Fußball-Weltverbandes Fifa, das WM-Teilnehmerfeld von 2026 an zu erweitern.

Auch Sigurdsson hatte kräftig rotiert: Andreas Wolff, der bei der Auftaktpartie gegen Ungarn 60 Minuten die Bank gewärmt hatte, startete für Silvio Heinevetter, statt Kapitän Uwe Gensheimer und Patrick Groetzki bildeten Rune Dahmke und Tobias Reichmann die Flügelzange, Niclas Piecz­kowski und Simon Ernst spielten sich im Rückraum ein. Zu Beginn scheiterten die deutschen Schützen immer wieder an Schlussmann Rene Oliva. „Er macht unorthodoxe Bewegungen, bleibt lange stehen und wird dann abgeschossen“, sagte Kohlbacher. „Bei mir zu Hause nennt man das einen Bauerntorhüter.“ Ernst (22) war es schließlich, der nach dem ersten Fehlwurf Chiles das erste Tor für Deutschland erzielte. Im weiteren Verlauf setzte die DHB-Auswahl vor allem ihre Kreisläufer Kohlbacher und Patrick Wiencek (drei Tore) ein. Und selbst als die Unparteiischen Kohlbacher und Wiencek gleichzeitig mit Zeitstrafen vom Feld schickten, fand Chile in doppelter Überzahl keine Lücke, denn hinter dem Abwehrbollwerk wartete ein extrem motivierter Andreas Wolff. Der Kieler brachte es bei seinem ersten WM-Einsatz überhaupt auf 16 Paraden.

Einen Schreckensmoment gab es dennoch: In der 23. Minute humpelte Paul Drux verletzt vom Feld. Den Rest der Partie verfolgte der Rückraumschütze der Füchse Berlin mit einem Kühlpack am rechten Sprunggelenk. „Ich bin blöd aufgekommen und umgeknickt, es ist ein bisschen dick geworden“, sagte der 21-Jährige, der den EM-Triumph vor einem Jahr wegen einer Schulterverletzung verpasst hatte. Am Abend gab Drux via Twitter Entwarnung: „Der Fuß sieht auch schon besser aus, zum Glück nichts kaputt.“

Sigurdsson blickt ebenfalls zuversichtlich auf die kommenden drei Vorrundenpartien, auch weil nach der Rotation nun alle „drin sind“ im Turnier. Auch die nächste Partie gegen Saudi-Arabien (Dienstag, 17.45 Uhr/handball.dkb.de) wird wohl nicht zu den Höhepunkten der Handballgeschichte gehören, vielleicht aber sorgt ja Kohlbacher mit seinen artistischen Einlagen erneut für Abwechslung.

Für die könnte in den K.-o.-Spielen, die für das deutsche Team mit dem Achtelfinale am nächsten Sonntag beginnen, auch Weltmeister Holger Glandorf sorgen. „Ich gehe fest davon aus, dass sich der Bundestrainer melden wird. Wir bleiben in Kontakt“, sagte der 33 Jahre als Linkshänder in der HSV-Facebook-Sendung „Schrödi & Schwalbe – Die WM-Couch“. Man sehe am Beispiel Paul Drux, wie schnell es gehen kann. Glandorf hatte 2014 seinen Rücktritt aus dem Nationalteam erklärt, bei der WM-Generalprobe vor einer Woche gegen Österreich aber überraschend sein Comeback gegeben. Anschließend war er wieder nach Flensburg gereist, wo er sich mit seinem Club auf die Bundesliga-Rückrunde vorbereitet. Er steht auf Abruf für Bundestrainer Sigurdsson bereit. Da der Isländer nur 15 anstatt der 16 maximal möglichen Spieler in seinen WM-Kader berufen hatte, kann er jederzeit einen Spieler nominieren.

Das Chile-Spiel sahen bis zu 486.000 User im Livestream des Handballsponsors DKB. Das Auftaktmatch gegen Ungarn (27:23) verfolgten in der Spitze 600.000 Zuschauer.