Fußballtalente im Dauer-Casting: Nur ein kleiner Prozentsatz der Jugendlichen schafft es später, in den Kader eines Proficlubs.

Die Autoren Ralf Lorenzen und Jörg Marwedel haben im Hamburger KJM Verlag das Buch „Die Zukunft des Fußballs“ mit dem Untertitel „Woher die nächsten Weltmeister kommen – Recherchen im System Jugendfußball“ (144 Seiten, 15 Euro) veröffentlicht. Im Abendblatt fassen sie die wichtigsten Erkenntnisse und Thesen im nachfolgenden Text zusammen.

„Wer ihn sah, mit seiner Antriebsfreude und seinem Spielwitz, bekam Energie für die eigene Arbeit.“ So erinnert sich Hamburgs Stützpunkt­koordinator Stephan Kerber (47) an Max Kruse, einen der ersten Spieler, den er für den Hamburger Fußballerverband Ende der 1990er-Jahre sichtete. Der deutsche Fußball lag international danieder, Rumpelfußball war noch eine der mildesten Charakterisierungen. Neidisch ging der Blick auf die Talente in Frankreich und den Niederlanden.

Kruse, Klose und Tah in Fußballschulen

Kerber leitete ein Pilotprojekt des Hamburger Verbands zum Aufbau von Nachwuchsstützpunkten (NLZ), das den Mangel beheben wollte und später im Talentförderprogramm des DFB aufging. Mit dessen Hilfe schafften es nicht nur die Hamburger Kruse (heute Werder Bremen), Jonathan Tah (Bayer Leverkusen) oder Eric-Maxim Choupo-Moting (Schalke 04) bis zum Profi. Bis auf den wesentlich älteren Miroslav Klose (heute 38) durchliefen alle deutschen Weltmeister von 2014 die neuen Fußballschulen.

Taktikbesprechung der ‚Komädchen‘ von Komet Blankenese mit ihrem Trainer Thorsten Mahnhardt
Taktikbesprechung der ‚Komädchen‘ von Komet Blankenese mit ihrem Trainer Thorsten Mahnhardt © HA | KJM Buchverlag/Andreas Fromm

Talentförderung der Marke „Made in Germany“ liefert inzwischen verlässlich Wertarbeit für die Spitze ab. Doch von allen geförderten Spielern eines Jahrgangs schafft es nur ein kleiner Prozentsatz in eine Profiliga, die Nationalspieler sind an einer Hand abzuzählen. Sind die anderen, die das System vorher aussortiert, nur nützliche Sparringspartner in Stützpunkten, Auswahlmannschaften und Leistungszentren? Oder nehmen auch sie nützliches Rüstzeug für ihr weiteres Leben mit?

Förderung der Talentiertesten

Was als Förderprogramm auf regionaler Ebene begann, ist ein gigantisches Auswahlsystem geworden. Heute gibt es bundesweit 366 Stützpunkte, in denen unter Federführung des DFB jeden Montag etwa 15.000 Jugendliche zwischen elf und vierzehn Jahren eine zusätzliche Trainingseinheit zur Förderung ihrer individuellen Stärken von qualifizierten Jugendtrainern erhalten. Sechs Zentren davon gibt es in Hamburg. Um die talentiertesten Jungen und Mädchen für diese Maßnahmen herauszufischen, hat der DFB ein dichtes Netz an Sichtungsmaßnahmen gespannt, in dem 2,5 bis 4 Prozent jedes Jahrgangs hängen bleiben (siehe Artikel unten links).

Zur individuellen Förderung kommen vorgegebene Trainingsschwerpunkte, die von den bundesweit 29 Koordinatoren mit der sportlichen Leitung des Programms erarbeitet werden. „Wenn etwa festgestellt wurde, dass das Eins-gegen-eins-Verhalten im Nachwuchsbereich zu wenig Berücksichtigung fand, wurde das schnell von uns aufgegriffen“, sagt Kerber. „Wir sind die schnellste Umsetzertruppe, die man sich vorstellen kann.“

Nur drei Prozent Mädchen und Frauen

Zur Leistungsdiagnostik wird halbjährlich ein sportmotorischer Test durchgeführt. Die Leistungsdaten aller Talente und Trainer sind in einer Datenbank erfasst. Die talentiertesten Mädchen haben ebenfalls die Möglichkeit, am Stützpunkttraining teilzunehmen. Insgesamt machen Mädchen und junge Frauen dort nur drei Prozent aus. Einige Landesverbände haben eigene Mädchen-Stützpunkte eingerichtet.

Eine besonders wichtige Funktion haben die Stützpunkte – genau wie die Auswahlmannschaften – als Sichtungsbecken für die Leistungszentren der Proficlubs. Die behalten in den Stützpunkten auch Jugendliche, die sich später entwickeln oder weiter entfernt wohnen, bis zum Alter von 14 Jahren im Blick. Die Leistungszentren beginnen aber schon wesentlich früher, den talentiertesten Nachwuchs der Region selbst zu scouten. Das NLZ des HSV etwa verfügt im Grundlagenbereich von neun bis elf Jahren über Perspektivkader, in denen die Kinder alle drei Wochen zusammenkommen. Den Großteil der Zeit trainieren sie im Stammverein, deren Trainer vom HSV geschult werden. Solche Angebote, die eine frühe Bindung auch für entfernter wohnende Jugendliche ermöglichen, gibt es in unterschiedlichen Variationen bis zum Ende des Aufbaubereichs mit 14 Jahren.

Viele Eltern besonders ehrgeizig

Oft sind es aber gerade die Eltern, die einen möglichst früheren Wechsel in ein Leistungszentrum forcieren und lange Wege in Kauf nehmen. „Andere Eltern haben ihren Jungen aktiv angeboten, Rundreisen durch die Leistungszentren gemacht, Probetrainings organisiert“, berichtet ein Vater. Der Ehrgeiz vieler Eltern ist das Einfallstor für die Beraterbranche. „Teilweise stehen die Vermittler bei Zwölfjährigen mit wilden Versprechen vor der Tür – manchmal sogar mit Geld- oder Sachgeschenken“, sagt Ulf Baranowsky, Geschäftsführer der Spielergewerkschaft vdv. Bereits in der D-Jugend sind geschickte Kontaktaufnahmen durch die Unterscouts der großen Agenturen gang und gäbe, viele Eltern werden überrumpelt.

Die Aufnahme in das Internat eines Leistungszentrums sollte nach Empfehlung der Deutschen Fußball Liga (DFL) erst von 15 Jahren an erfolgen, woran sich die Clubs in der Regel halten. Die Jagd nach Toptalenten führte aber immer wieder zu Fällen, in denen Spieler früher ins Internat kamen, wie zum Beispiel Sidney Djalo, der im Alter von 13 Jahren vom FC St. Pauli zum VfL Wolfsburg wechselte. Von diesem Alter an ist häufig schon Geld im Spiel, obwohl das sportrechtlich erst mit dem 16. Lebensjahr durch sogenannte Förderverträge möglich ist. Monatliche Zahlungen im fünftstelligen Bereich für hochtalentierte U-17-Spieler sind auch in Deutschland nicht unüblich.

Das Leben eines Quasi-Profis

Wer im Leistungsbereich eines Proficlubs landet, führt das Leben eines Quasi-Profis. Fünfzehnjährige trainieren vier- bis fünfmal in der Woche im Verein, dazu kommen mehrere Einheiten in den Kooperationsschulen plus Spiele, Lehrgänge und Turniere der Auswahlteams. „Die bräuchten schon mit 15, 16 eine Sekretärin, zumindest ein gutes Zeitmanagement“, sagt Ex-Profi Fabian Boll, der bis vor einem halben Jahr Co-Trainer der U23 des FC St. Pauli war. „Ganz überspitzt formuliert: Sie schmeißen ihre Jugend weg.“

Talentierte Jugendliche sind heute sehr früh Teil des Interessenkomplexes einer überhitzten, boomenden Branche. Sie betreten einen Erwartungsraum, in dem sich ihre Träume mit den Erwartungen ihrer Eltern, von Trainern, Scouts, Beratern vermischen, die alle am Erfolg partizipieren wollen. In einem Alter, in dem sie sich sozial und psychisch erst entwickeln, müssen sie in einem fast perfekt durchstrukturierten System funktionieren. „Das System ist sehr diktatorisch“, sagt der Psychotherapeut Ivo Kühn, dessen Sohn selbst in einem Leistungszentrum spielt. „Man muss sich unterwerfen, im Sinne von ‚Friss oder stirb‘. Es geht nur über die Vereine, und die sind eine Subkultur der Gesellschaft. Da wird im Kern ergebnisorientiert gedacht und nicht entwicklungsbezogen und perspektivisch.“

Zeit und Liebe der Eltern das Wichtigste

Die Jugendlichen sind Teil eines Dauercastings, in dem Firmen – und das sind die Proficlubs und der DFB - sich den Teil herauspicken, von dem sie sich den größten Erfolg für ihre Ziele versprechen. Dabei haben auch die anderen 98 Prozent über Jahre auf den Fußball fokussiert, um ihre Träume zu verwirklichen. Umso wichtiger ist es, dass sie auf ihrem Weg Begleiter haben, die keinen eigenen Interessen folgen. Oder wie es HSV-Profi Lewis Holtby sagt: „Du brauchst objektive Meinungen, du brauchst viel Liebe, viel Zeit von deinen Eltern, das ist das Wichtigste.“