Hamburg. Hoffenheims Kerem Demirbay gilt als eine der Entdeckungen der Saison. Seine Geschichte sagt aber vor allem viel über seinen Ex-Club HSV aus

Der große Saal im CCH ist noch immer gut gefüllt, als Frank Arnesen das Podium betritt und über den guten Weg spricht, auf dem sich der HSV seiner Meinung nach befindet. Höflicher Applaus. Der Däne erwähnt die großartige Perspektive, die Spieler wie Heung-Min Son hätten. Doch erst als hinter dem Sportchef des HSV das Bild eines schmächtigen Jünglings im Dortmund-Trikot an die Wand geworfen wird, ist es mit der Zurückhaltung vorbei. „Das ist Kerem Demirbay“, sagt Arnesen unter lautem Jubel der immer noch 700 anwesenden Mitglieder. „Er ist ein Riesentalent – und er kommt im Sommer ablösefrei zu uns.“

Knapp vier Jahre ist das her, doch Kerem Demirbay kommt es wie eine halbe Ewigkeit vor. „Die Jahre in Hamburg haben mich als Mensch und Fußballer geprägt, jetzt bin ich abgehärtet“, sagt der mittlerweile 23 Jahre alte Profi, von dem Ex-HSV-Trainer Thorsten Fink auf besagter Mitgliederversammlung sagte, dass er das gleiche Potenzial wie Mesut Özil habe. „Ich bin ein Kämpfertyp“, sagt Demirbay. „Irgendwie bin ich auch froh, dass ich diese Erfahrungen mitnehmen konnte.“

Es ist später Vormittag, noch sind drei Stunden Zeit bis zum Mannschaftstraining von 1899 Hoffenheim. Demirbay sitzt im Medienbüro seines neuen Arbeitgebers und macht das, was Fußballer normalerweise eher ungern machen. Pressetermine, PR, Sponsorensachen. Demirbay ist ein Leisetreter, er steht ungern im Mittelpunkt. Doch das Interesse an seiner Person ist groß, der Mittelfeldmann gilt als eine der Entdeckungen der Saison. Insbesondere vor dem Spiel am Sonntag (15.30 Uhr) gegen den HSV, seinen HSV, gibt es zahlreiche Anfragen. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich für den Club wichtig war“, sagt Demirbay.

Beim HSV wurde Demirbay nur dreimal eingewechselt

Wer Demirbays Auf und Ab in Hamburg versteht, der versteht auch den HSV. Drei Jahre lang stand der gebürtige Hertener beim Dino der Bundesliga unter Vertrag, wurde in der Zeit aber nur dreimal für insgesamt 55 Minuten eingewechselt. Eine Saison lieh der HSV den Deutsch-Türken nach Kaiserslautern aus, eine zweite Saison nach Düsseldorf. In der vergangenen Spielzeit war er der torgefährlichste Mittelfeldspieler der Zweiten Liga. Beim HSV wollte ihn trotzdem im Sommer keiner zurückhaben. Demirbay wurde verliehen, vergessen, verkannt, verkauft. Und nun, weit weg von Hamburg, wird er verehrt.

Während seiner Ausleihe nach Düsseldorf habe sich zu Saisonbeginn nur einmal Marinus Bester, der damalige Teammanager des HSV, bei ihm per SMS gemeldet und ihm sinngemäß geschrieben, dass er so weitermachen solle. „Ansonsten habe ich nichts von den Verantwortlichen gehört“, sagt Demirbay. „Danach wusste ich, dass ich den HSV definitiv verlassen will.“

Trotzdem sagte Ex-Trainer Bruno Labbadia im Juli trotzig: „Wir werden keinen Spieler verschenken.“ Einen Tag später wechselte der Unverschenkbare für 1,7 Millionen Euro nach Hoffenheim. „In so kurzer Zeit eine so dominante Rolle im Mittelfeld einzunehmen – das ist schon außergewöhnlich“, schwärmte 1899-Manager Alexander Rosen nur wenige Monate danach.

Doch ist das wirklich so außergewöhnlich? „Der eine oder andere hatte Zweifel, dass ich es schaffen würde“, gibt Demirbay offen zu. „Spätestens jetzt habe ich aber bewiesen, dass ich Bundesliga spielen kann.“

Doch warum jetzt? Warum in Hoffenheim und warum nicht in Hamburg? Hoffenheim sei nicht Hamburg, sagt Demirbay. „In Hoffenheim spüre ich das Vertrauen des Trainers. Es macht unheimlichen Spaß mit ihm.“ Julian Nagelsmann sei es auch gewesen, der sich bereits im Frühling mit ihm getroffen habe, sich intensiv um ihn bemüht habe. „Nach dem Gespräch wusste ich, dass ich nach Hoffenheim will“, sagt Demirbay, dessen Berater sich nach all den Erfahrungen beim HSV noch mal intensiv in Hoffenheim umgehört hatte. „Hier können sich junge Spieler sehr gut entwickeln, ihnen wird hier eine klare Perspektive aufgezeigt“, sagt Demirbay.

Als das Talent 2013 beim HSV seinen ersten Profivertrag unterschrieb, hieß der Trainer Thorsten Fink. Ein halbes Jahr später kam Demirbay – und Fink musste gehen. Bert van Marwijk wurde geholt – und musste auch schon wieder gehen, noch bevor Demirbay auch nur eine einzige Bundesligaminute spielen konnte. Seine erste Partie als HSV-Profi absolvierte er unter Van-Marwijk-Nachfolger Mirko Slomka, der aber im Sommer trotzdem nicht viel mit dem talentierten Jungen mit den schmalen Schultern anzufangen wusste. Der Knabe ging für ein Jahr nach Kaiserslautern – und als er dann zurückkam, hatten sich neben Slomka auch Joe Zinnbauer und interimsweise Peter Knäbel auf der HSV-Bank ausprobieren dürfen. Doch nun war es Bruno Labbadia, der beim HSV das Sagen hatte – und der ähnlich viel von Demirbay hielt wie ein Jahr zuvor Slomka: „Ich habe beiden Trainern oft genug versichert, dass ich bleiben und meine Chance suchen wollte“, erinnert sich Demirbay. „Diese Chance wurde mir aber nicht geboten.“

Es ist ein Demirbay-Skjelbred-Arslan-Rincon-Öztunali-Choupo-Moting-Satz. Nimmt man alle Talente, die der HSV in den vergangenen Jahren verkauft, verliehen, verschenkt und vor allem verkannt hat, dann ließe sich pro­blemlos eine ganze Bundesligamannschaft daraus bilden. Ein würdiger Kapitän: Leverkusens Nationalspieler Jonathan Tah. Oder 30-Millionen-Euro-Mann Heung-Min Son. Oder eben Demirbay, um den sich derzeit der türkische Verband intensiv bemüht. „Das pusht dich natürlich noch einmal zusätzlich“, sagt der Deutsch-Türke, der allerdings noch nicht mal einen türkischen Pass hat. „Eine endgültige Entscheidung ist noch nicht gefallen.“

Und der HSV im Hier und Jetzt? Für Demirbay nur noch graue Vergangenheit. „Ich freue mich sehr auf das Spiel und auf ein Wiedersehen mit den Jungs. Viele sind ja aber leider nicht mehr da.“ Auch seine besten Kumpel Hakan Calhanoglu (heute Bayer Leverkusen) und Tolgay Arslan (heute Besiktas Istanbul) sind längst weg. Kontakt habe er nur noch ab und an mit Pierre-Michel Lasogga und Emir Spahic. Und trotzdem: „Von meiner Seite aus gibt es keine negativen Gedanken mehr in Richtung HSV.“

18. Platz, noch kein Spiel gewonnen und gerade mal vier Tore geschossen. Was erwartet er nun am Sonntag? Demirbay überlegt lange, dann sagt er leise: „Einen starken Gegner.“