Hamburg. St. Paulis neuer Interimssportchef bekennt sich öffentlich zum Trainer und will beim Kiezclub keine „One-Man-Show“ abziehen

Es war eines dieser Gespräche in einer Ehe, die sein müssen, aber keinesfalls Spaß bringen. Als An­dreas Rettig vor zwei Wochen eines Abends nach Hause kam, hatte er seiner Frau Cordula etwas zu beichten. „Meine Frau fragte mich, ob jetzt wieder die Zeit beginnt, wo sie mich nur als Bild auf dem Nachttisch sieht“, sagte Rettig, der neben seiner Tätigkeit als Geschäftsführer Finanzen auch die Aufgabe des Sportdirektors beim FC St. Pauli übernimmt, am Montag. „Ich sagte: Ja, du hast recht! Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen“, scherzte Rettig, der darauf verzichtet, während der Spiele auf der Bank Platz zu nehmen. „Ich sitze bei den Spielen neben meiner Frau, um dort meinen ehelichen Pflichten nachkommen zu können“, sagte Rettig mit einem Augenzwinkern.

An sportlichen Pflichten mangelt es dem 53-Jährigen in den kommenden sieben Monaten nicht. Dessen ist sich Rettig bewusst. Dabei kann der ehemalige Kölner, Freiburger und Augsburger Sportchef auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückgreifen, auch wenn seine persönliche Karriereplanung nicht vorgesehen hat, noch einmal als Sportdirektor aktiv zu werden: „Die Situation hier ist neu für mich. Es geht nur darum, den Kopf über Wasser zu halten und mindestens zwei Teams hinter uns zu lassen. Bei den anderen Stationen ging es eher um Aufbau und perspektivische Arbeit“, sagte Rettig, der sich bei seinem ersten Gespräch in neuer Doppelfunktion gewohnt eloquent, schlagfertig, aber auch voller Respekt vor der schweren Aufgabe beim Tabellenletzten der Zweiten Liga präsentierte.

Auf große Ankündigungen verzichtete der Nachfolger von Thomas Meggle. Rettig will seine guten Kontakte in die Szene nutzen, um den Kader im Winter zu verstärken. Aber nicht um jeden Preis. „Bei uns steht über allem die wirtschaftliche Vernunft. Dafür gibt es keinen Ersatz. Der Transfermarkt ist seit meiner letzten Zeit als Sportchef deutlich umkämpfter, aggressiver und schwerer geworden“, sagte Rettig, der sich bezüglich eines Anforderungsprofils für Neuzugänge nicht in die Karten schauen lassen wollte. „Technisch beschlagen, schnell, kopfballstark, ablösefrei und am liebsten hier im Stadtteil geboren“, scherzte Rettig. Und im Ernst: „Wir müssen fleißig sein und hoffen, dass wir Spieler auf unserem Radar haben, die Lust auf St. Pauli haben.“

Ernst wurde der neue Interimssportchef auch bei der Trainerfrage. Wie Vorgänger Meggle stellte sich auch Rettig demonstrativ vor Übungsleiter Ewald Lienen. „Wenn wir nicht von ihm überzeugt wären, hätten wir ihn längst freigestellt oder beurlaubt. Es ist wichtig, dass der Trainer einen Sparringspartner hat, der ihm seine Eindrücke mitteilt und mit ihm diskutieren kann“, sagte Rettig, der sich über die Vorschusslorbeeren als Hoffnungsträger zwar freut, vor überzogenen Erwartungen aber warnt. „Das wird hier keine One-Man-Show“, sagte Rettig, der sich in den kommenden Wochen erst einmal ein ausführliches Bild von den sportlichen Gegebenheiten machen will.

Auch wenn er nicht bei jeder Trainingseinheit vor Ort sein wird: Rettig will nah am Team sein, sieht sich aber nicht als Blitzableiter für Spieler, die sich über zu hartes Training oder falsche Positionen beschweren wollen. „Wenn nachts jemand beim Pokern ausgelöst werden muss und Hilfe braucht beim Reifenwechseln, dann kann er mich anrufen. Aber die anderen Themen sind Entscheidungskompetenz des Trainers“, sagte Rettig.

Der ehemalige Chef der Deutschen Fußball-Liga (DFL) betonte, dass er die Doppelfunktion nur bis zum Saisonende ausführen wird. Mehr Geld bekommt er dafür nicht. Das ist aber nicht der Grund, warum er den Job nur kommissarisch übernimmt. Auf Dauer sei das Arbeitspensum zu hoch, um beide Geschäftsfelder zufriedenstellend ausüben zu können. Kurzfristig sieht Rettig keine Probleme. Im Gegenteil.

So ganz nebenbei brachte er sich nicht ganz ernst gemeint beim HSV ins Gespräch. „Wir haben schon geflachst, ob nicht der Fußballbeauftragte für die Stadt Hamburg eine Option wäre – vielleicht wäre das dann auch mit einer Gehaltserhöhung verbunden“, scherzte Rettig. Was dazu wohl seine Ehefrau Cordula sagen würde?